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Im November 2014 fuhr Jürgen Todenhöfer als bislang weltweit einziger westlicher Journalist in das Zentrum des IS-Staats, nach Mossul, hielt sich dort 10 Tage lang auf und führte Interviews.

8. Mai 2015 / 06:27 Uhr

Das wahrscheinlich wichtigste Buch des Jahres: “Inside IS”

Jürgen Todenhöfer ist der erste und bislang einzige international bekannte Journalist, der vom „Kalifen“ des Islamischen Staates zu einer Besichtigung eingeladen wurde. Zehn Tage verbrachte er dort und kam mit einer Fülle von Fakten und Impressionen zurück, die es jetzt in Buchform gibt. Die Erkenntnisse sind ausgesprochen essentiell.

Jürgen Todenhöfer war Außenpolitiker für die CDU und danach Journalist. Seit Jahrzehnten trifft er ranghöchste Vertreter von Staaten und Organisationen und ist bemüht, in Konfliktsituationen immer beide Seiten zu hören. Dies und sein Standpunkt, dass der Westen seit 200 Jahren Verbrechen an der islamischen Welt begehe, sind auch im Islamischen Staat bekannt. Als Todenhöfer bei seinen Recherchen im Internet auf einen Deutschen der mittleren IS-Führungsebene stieß, entstand bald der Gedanke eines Besuchs, der beiden Seiten interessante Perspektiven bot: Für Todenhöfer die Suche nach der Wahrheit mit Informationen von innen, für den IS die Möglichkeit, sich als tatsächlicher Staat mit funktionierenden Strukturen und einer Normalität auch im europäischen Sinn zu präsentieren. Für einen IS-Gegner wie Todenhöfer somit nicht nur ein lebensgefährliches Wagnis, sondern auch bei heiler Rückkehr ein zweischneidiges Schwert. Unterm Strich ist der Gewinn für IS-Gegner aber größer, und zwar nach der zweifellos richtigen Maxime Todenhöfers „Wer seinen Feind besiegen will, muss ihn kennen.“ Der Autor baut das Buch dann auch bestmöglich auf. Er beschreibt die Vorgeschichte des IS, sehr detailliert, aber ohne den nicht so versierten Leser zu überfordern. Und er dokumentiert auch die Anbahnung mit seinem Kontaktmann, den Deutschen Abu Qatadah alias Christian E. Während des wochenlangen Kontakts via Internet entsteht eine Vertrauensbasis und Todenhöfer kann sogar die Mutter des Kontaktmannes in Düsseldorf treffen. Es entsteht das Bild eines hochintelligenten Außenseiters, der alles hinterfragt und einen starken Gerechtigkeitssinn hat. Auf der anderen Seite geht er kaltschnäuzig über Leichen. Für die Mutter eine Katastrophe.

Die Reise in den Islamischen Staat war bestens geplant

Da Todenhöfer nicht wie seine Kollegen vor ihm in oranger Kluft vor laufender Videokamera enthauptet werden will, ist ein Persilschein des IS-Kalifen Abu Bakr Al Baghdadi die Grundvoraussetzung für die Unternehmung. Als diese glaubhaft vorliegt (mit der Einschränkung der Beleidigung Gottes, auf die im IS die Todesstrafe steht), geht es im Dezember 2014 los. Die Einreise über Feldwege und ein Loch im türkischen Grenzzaun ist abenteuerlich. Todenhöfer, sein Sohn Frederic, der auf die Begleitung bestand, und ein Freund haben für den Fall der Fälle Giftkapseln an ihren Körpern. Neben ein paar bewaffneten Bewachern ist meistens Abu Qatadah mit dabei. Das Sagen dürfte aber der vermummte Chauffeur haben, dessen enorme cholerische Ader immer wieder für brenzlige Situationen sorgt. Es stellt sich nachträglich heraus, dass es sich um den berüchtigten, aus Großbritannien stammenden Henker Jihadi John handelte. Den Europäern zeigt sich, dass Normalität und Normalität nicht dasselbe ist. Einerseits gibt es auch in Mosul, das Todenhöfer von früher kennt und wo er den Vergleich hat, ein ungestört florierendes Geschäftsleben und bei Überlandfahrten sieht man viele neue Bauprojekte, andererseits ist eine mörderische Selbstverständlichkeit omnipräsent. Etwa, wenn einer der IS-Richter ganz locker über seine Arbeit und über das Schicksal seiner Vorgänger erzählt (S. 231 f.):

T: Wo haben Sie Jura studiert?
R: In verschiedenen Moscheen.
T: In Moscheen?
R: Ja, ich war Prediger in einer Moschee, bevor der IS hierhergekommen ist.
T: Arbeiten hier auch Richter, die vor der Machtübernahme des IS schon Richter waren?
R: Nein, die wurden alle getötet. Sie haben die Gesetze der Menschen über die Gesetze Gottes gestellt. Außerdem waren viele von ihnen korrupt. Die Menschen sind mit den neuen Gesetzen und uns Richtern zufrieden. Wir wenden ja einfach nur die Shariah an. Wir interpretieren nicht herum, sondern verfügen nur, was geschrieben steht. Alle Fälle werden daher auch zügiger bearbeitet.
T: Sind für die nächsten Tage irgendwelche Exekutionen, Auspeitschungen oder Handamputationen geplant?
R: Nein.
T: Welche Hand wird eigentlich abgehackt? Gibt es da eine Regel?
R: Ja, immer die Hand, mit der gestohlen wurde.
T: Geschieht das oft?
R: Ich selber habe nur zweimal die Hand abhacken lassen müssen. In der gesamten Provinz kam das in den letzten vier Monaten nicht mehr vor. Es gab lediglich einen Fall von Hurerei. Die Verurteilte wurde gesteinigt. Glauben Sie mir, das schreckt die Leute ab. Außerdem, jetzt wo die Bestechung der Richter nicht mehr möglich ist, überlegen sich die Leute genau, ob sie eine Straftat begehen oder nicht. Früher konnte man sich freikaufen. Das geht heute nicht mehr. Gleiches Recht für alle.

Abu Qatadah fragt, ob Todenhöfer und sein Sohn an einer Exekution teilnehmen wollen, denn "dies ließe sich organisieren". Es gebe genügend Gefangene mit entsprechenden Straftaten. „Sie müssen es uns nur sagen. Wir haben damit kein Problem. Ich kann das auch selber für Sie machen. Was hätten Sie gerne? Einen Kurden oder einen Schiiten?“ Er lächelt, während er ihnen Exekutionen und Amputationen anbietet. Todenhöfer lehnte ziemlich schroff ab. Frederic war völlig schockiert.

Abu Qatadah erklärte den Islamischen Staat

In all seiner Grausamkeit ist Abu Qatadah der wichtigste Faktor für die Wahrheitssucher. Er erklärt, warum Christen im IS verschont würden und nur eine Kopfsteuer (mit zwei Tarifen je nach Einkommen) zu bezahlen hätten, während Schiiten, wenn sie nicht konvertieren, getötet werden: Sie sind vom Islam abgefallen und das ziehe automatisch die Todesstrafe nach sich. Ob man 100, 200 oder 500 Millionen Schiiten töten müsse, sei sekundär. Dasselbe gelte für die Jesiden, die bekennende Teufelsanbeter seien. Ihre Frauen als Kriegsbeute zu versklaven sei völlig legitim und eben auch normal im IS. Auch in seinen Einschätzungen zum IS redet er ohne jede Propaganda frei von der Leber weg. Mosul mit zwei Millionen Einwohnern werde von 5.000 IS-Milizionären kontrolliert, es waren gar nur 183 vonnöten, um 20.000 schwerbewaffnete irakische Soldaten in die Flucht zu schlagen. Die Bevölkerung halte ohne Probleme still. In Rakka, das als IS-Hauptstadt gilt, würde bei Wahlen jedoch heute noch die Mehrheit für Assad votieren. Dieser zahle immer noch die Gehälter von Damaskus aus und verlange von den Menschen weniger als der IS.

Abu Qatadah ist vom Sieg des IS überzeugt

Abu Qatadah macht aus seiner Verachtung für die „faulen“ Araber kein Hehl und er weiß, dass diese die Ausländer nicht mögen, „aber die gewöhnen sich schon noch an uns“. Abu Qatadah ist vom Sieg und der späteren Weltherrschaft des IS überzeugt. Er verweist auf die ständigen Neurekrutierungen und dass niemand eine Armee, deren Soldaten sterben wollen, aufhalten könne. Der geschichtskundige Leser denkt dabei unweigerlich an die das Weströmische Reich überrennenden Germanen und an die japanischen Kamikaze-Flieger. Man bekomme immer mehr Waffen, weil die Lieferungen an die IS-Feinde von den Empfängern an sie verkauft würden. Und man erbeute viele. Man habe sogar Flugzeuge, aber noch keine Piloten. Wenn das behoben ist, sei der einzige militärische Vorteil des Westens kompensiert. Man präge auch bereits erste Münzen einer eigenen Währung, die ihr Fundament nicht auf dem US-Dollar, sondern auf Gold haben werde. In seiner unverkrampften Art gibt der deutsche IS-Funktionär Todenhöfer erstaunliche Auskünfte: „Abu Qatadah behauptet, dass die 44 UN-Blauhelmsoldaten von den Fidschi-Inseln, die diesen Sommer angeblich von Jabhat Al Nusra entführt wurden, in Wirklichkeit von der FSA gekidnappt worden seien. Die FSA habe aber aus Rücksicht auf ihre westlichen Sponsoren schlecht bei der UN Lösegeld fordern können. Also hätten sie die Geiseln an Jabhat Al Nusra weitergegeben und sich die Kohle geteilt.“ (S. 203 f.) Todenhöfer zeigt zuweilen von medialen Klischees im Westen abweichenden Scharfsinn. Er widerspricht Abu Qatadah, dass die Türkei ein IS-Gegner sei, dieser führt aber die sich in den letzten Monaten herauskristallisierten plausibel unüberwindlichen Gegensätze zwischen diesen Nachbarn aus. Geht es nach den meisten IS-Kämpfern sind Erdogans Tage gezählt. Und der Journalist begibt sich einige Male an den Rand der IS-Erträglichkeitsgrenze, meistens wenn er betont, dass Allah im Koran viel gnädiger sei als die Dschihadisten. Und in diesem Punkt wird er unbewusst selbst zum Demonstrationsobjekt. Völlig naiv versucht er den Islam fremdzubeschönigen. Die entscheidende Buchpassage findet sich auf den Seiten 111 und 112, noch in der Phase des Chattens mit Abu Qatadah:

T: Wie würden Sie Ihren Islam beschreiben, wenn Sie das in zwei Sätzen tun müssten?
Q: Unser Islam ist der wahre Islam, frei von irgendwelchen Vermischungen mit anderen Ideologien, sei es Demokratie, sei es Säkularismus, sei es Buddhismus, sei es Christentum oder sonst irgendetwas.
T: Also vergleichbar mit der wahhabitischen Lehre.

Q: Man kann das nicht wahhabitische Lehre nennen, denn diese Lehre hat es schon vor Wahhab gegeben, der im 17. Beziehungsweise im 18. Jahrhundert gelebt hat. Es gab zu jeder Zeit Leute, die den wahren Islam gelebt haben. Es sind halt die wenigsten.
T: Muss man nach Auffassung des IS den Koran wörtlich nehmen, oder muss man die Grundgedanken des Koran aus ihrer geschichtlichen Bindung herauslösen?

Q: Es gibt Sachen im Koran, die man nur geschichtlich verstehen kann. Aber natürlich muss man die Antworten wörtlich nehmen, frei von jeder Interpretation. Dieses Wörtlichnehmen des Koran ist ein wichtiger Bestandteil des Islam. Die Leute, die heutzutage abgeirrt sind und sich in irgendwelchen anderen Ideologien verirrt haben, sind meistens Leute, die den Koran nicht wörtlich auslegen. Sondern anfangen zu philosophieren. Wie die alten Griechen.

 Es ist paradox, aber nicht untypisch für den Westen, dass Todenhöfer als „Christdemokrat“ nicht das Ausmaß an Religiosität mitbringt, um den ehrlichen (ist der noch bessere Begriff als „wahr“) Islam a la IS zu verstehen. Todenhöfer beklagt zwar die Verbrechen des Westens gegen die islamische Welt, aber er blendet völlig aus, dass etwa im urchristlichen Anatolien der Anteil der Christen heute bei 0,1 % liegt. Todenhöfer ist ein typischer säkularer Westeuropäer, indem er den Unterschied zwischen „religiös sein“ und „die Religion nicht ernst nehmen“ gar nicht mehr erkennt. In Mittel- und Westeuropa ist es absolut normal, vorehelichen Geschlechtsverkehr zu haben, freitags Fleisch zu essen, sonntags nie in die Kirche zu gehen etc. und trotzdem als „religiös“, „fromm“, „christlich“ zu gelten (was auch zu begrüßen ist). Islam und Islamischer Staat sehen die schriftlichen Grundlagen ihrer Religion aber eben noch wie die Europäer die Straßenverkehrsordnung: Wenn die Ampel rot leuchtet, wird stehengeblieben – und nicht „ein bisschen stehengeblieben“ oder „reformatorisch“ darüber sinniert, dass die StVO schon sooo alt sei und man eine Neuauslegung angehen sollte. In dieser Kernfrage zeigt sich Jürgen Todenhöfer bei allem Intellekt nicht lernfähig: Das vorletzte Kapitel des Buches ist ein offener Brief an den IS-Kalifen, in dem das „Unrecht des Westens“ nicht fehlen darf. Aber der angesprochene „Kalif“ schade dem Islam mit seiner Fehlinterpretation. Und in kindlicher Eigeninterpretation listet er auf S. 271 Koran-Verse auf, die beispielsweise den Angriffskrieg verbieten – unter Negierung der Fülle an ganz gegensätzlichen Koranpassagen. All das macht dieses Buch für generell und insbesondere politisch interessierte Zeitgenossen zu einer unumgänglichen Lektüre.

Das Buch kann über die buecherquelle.at bezogen werden.

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