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16. Juli 2011 / 08:39 Uhr

Nordirland: Ausschreitungen während der “Marching Season”

 UVFJedes Jahr in der ersten Julihälfte findet in Nordirland die sogenannte „Marching Season“ statt, in der die Oranierorden mit Paraden in allen nordirischen Städten den protestantischen Sieg über die Katholiken in der Schlacht an der Boyne im Jahr 1690 feiern. Die Paraden sind seit Jahrzehnten von katholischen Protesten begleitet, die teilweise in blutigen Auseinandersetzungen endeten und den Nordirlandkonflikt weiter anheizten. Trotz des seit 1999 andauernden Friedensprozesses kam es dieses Jahr wieder zu heftigen Zusammenstößen mit mehreren Dutzenden Verletzten.

Protestantische Machtdemonstrationen im Vorfeld

Bereits im Vorfeld der Marching Season griffen Maskierte von 20. bis 22. Juni die katholische Enklave Short Strand im protestantische East Belfast an; die Aktion soll laut Polizeiberichten von der loyalistischen Ulster Volunteer Force UVF geplant und durchgeführt worden sein und ist deswegen nicht mit spontanen, unorganisierten Gewalttätigkeiten zwischen den beiden Volksgruppen Nordirlands vergleichbar. Im weiteren Verlauf setzten sich die Einwohner des Bezirkes zu Wehr, sodass sich eine Straßenschlacht entwickelte, in der beide Seiten unter anderem auch Brandsätze und Schusswaffen einsetzten. Erst nach zwei Tagen gelang es der Polizei, die Lage unter Kontrolle zu bekommen.

UVF

UVF

Die protestantisch UVF malt ihre Botschaften auf Mauern in East Belfast.
Heuer setzte sie die Spirale der Gewalt gezielt in Gang.
Foto: Asterion / Wikimedia (CC-BY-SA-2.5)

In Ballyclare, County Antrim, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, nachdem die nordirische Polizei am 9. Juli mehrere Fahnen loyalistischer Gruppen wie der UVF und der Ulster Defence Association UDA, aber auch den Union Jack und die Fahne Nordirlands, die um im Umfeld einer katholischen Kirche montiert worden waren, abgehängt hatte. Das Zeigen verschiedener Fahnen ist in Nordirland ein brisantes Thema, da damit oftmals auch Machtpositionen in einzelnen Gebieten symbolisch eingenommen werden. Deswegen gibt es ein eigenes Gesetz, das „Flags Protocol“, welches das Zeigen von Fahnen und Symbolen genau regelt. Abzeichen verbotener Organisationen, worunter vor allem protestantische und katholische paramilitärische Gruppen fallen, sind generell verboten.

In Ballyclare kaperten die Protestierenden neben anderen Fahrzeugen auch einen Linienbus, den sie als Rammbock gegen die Polizei einsetzten. In den nahen Gemeinden Carrickfergus und Larne kam es in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli ebenfalls zu Ausschreitungen. In Ballyclare entschuldigte sich die Polizei für das Abhängen der Fahnen.

Brennpunkt Ardoyne

Die meisten Aufmärsche finden am 12. Juli, dem Jahrestag der Schlacht, statt. Besonders konfliktreich verläuft dieser Tag regelmäßig im südlichen Ardoyne, einer katholisch-republikanischen Hochburg im sonst protestantischen East Belfast. Bereits 2001 war der Stadtteil in die Schlagzeilen gekommen, als Protestanten im Norden des Bezirkes eine katholische Mädchenschule über Wochen hinweg blockierten. Nachdem sich die Polizei vor dem Sommer geweigert hatte, den Schulweg für die Schülerinnen frei zu machen, griffen Armee und Polizei zum Beginn des neuen Schuljahres im Herbst doch ein. Trotz Präsenz der Sicherheitskräfte glich der Schulweg für die Eltern und Schülerinnen einem Spießrutenlauf, erst nach drei Monaten wurde die Blockade aufgehoben.

Oranier

Oranier

Die Oraniermärsche arten vor allem im katholisch geprägten
Belfaster Stadtteil Ardoyne immer wieder in Gewalt aus.
Foto: Helenalex / Wikimedia (CC-BY-SA-3.0)

Jedes Jahr führt der Aufmarsch der Oranier auch durch den katholischen Teil Ardoynes, was dessen Einwohner bisher immer wieder – erfolgslos – zu verhindern suchten. Auch dieses Jahr gab es den Versuch, die Parade durch eine Sitzblockade zu stoppen, die allerdings von der Polizei aufgelöst wurde. Ab den frühen Abendstunden kam es zu groben Auseinandersetzungen zwischen katholischen Jugendlichen und der Polizei, bei denen mehrere Menschen verletzt wurden. Ardoyne war nicht der einzige Unruheherd der vergangenen Nächte. In anderen katholischen Teilen Belfasts, Derrys und weiteren katholische Hochburgen kam es zu Ausschreitungen.

Zwischen Radikalisierung und Perspektivenlosigkeit

Die heftigen Gewaltausbrüche von beiden Seiten haben sowohl die Polizei als auch Beobachter erstaunt, nachdem es in den letzten Jahren relativ ruhig in Nordirland gewesen war. Die beiden größten Parteien, die Democratic Unionist Party (DUP, protestantisch) und die Sinn Fein (katholisch) haben im Vorfeld zur Ruhe aufgerufen und die Gewalttaten verurteilt. Obwohl beide Parteien die jeweils radikalere Strömung der Unionisten und Republikaner repräsentieren, haben diese Aufrufe nur teilweise gefruchtet. Sowohl einige extremistische Gruppen wie die IRA-Abspaltungen Real IRA und die Continuity IRA auf republikanischer, aber auch UVF und UDA auf unionistischer Seite sowie eine größer werdende Gruppe unzufriedener Jugendlicher können mit dem Friedensprozess nichts anfangen oder lehnen ihn dezidiert ab. Dabei dürfte aber nicht nur Politik eine Rolle spielen. Viele junge Menschen in Nordirland sind wegen hoher Arbeitslosigkeit und mangelnder Perspektiven frustriert. Besonders unter katholischen Jugendlichen herrscht dazu weiterhin großes Misstrauen gegenüber der Polizei, die immer noch als protestantisch wahrgenommen wird. Ein Teil sieht sich auch von der republikanischen Sinn Fein betrogen, die inzwischen ebenfalls als Teil der herrschenden Klasse gesehen wird. Den Republikanern, die den Friedensprozess ablehnen, treibt diese Stimmung neue Anhänger zu.

Die loyalistischen Paramilitärs auf der anderen Seite haben durch ihre Aktionen in Short Strand und Ballyclare gezeigt, dass sie weiterhin zu größeren Aktionen fähig sind. In beiden Fälle haben sich nordirische Politiker verhandlungsbereit mit den Paramilitärs gezeigt, um die Unruhen einzudämmen. Kritiker werfen diesen und der Polizei vor, den Extremisten mit dieser Nachgiebigkeit in die Hände gespielt zu haben. Es sei demonstriert worden, dass man mit Gewalt durchaus seinen Standpunkt durchsetzen könne.

Ein langer Weg zu dauerhaftem Frieden

Trotz der positiven Entwicklungen des letzten Jahrzehnts sollte die Tragfähigkeit des Friedens in Nordirland nicht überschätzt werden. Auch wenn von einer Neuauflage des Bürgerkrieges nicht die Rede sein kann, gibt es noch sehr viele Probleme in Nordirland, deren Lösung einen stabilen, dauerhaften Frieden erst ermöglichen wird.

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