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20. Mai 2012 / 12:24 Uhr

Die Talibanisierung von Mali kann noch vermieden werden

In Mali hat der Aufstand der Tuareg nur vordergründig klare Verhältnisse geschaffen. Die nördliche Region Azawad entzieht sich seither als Tuareg-Staat jedem Zugriff der Zentralmacht in der Hauptstadt Bamako. Doch in Azawad (Land der Wadis, also saisonaler Flüsse) machen sich seither auch Islamisten breit und kämpfen für gänzlich andere Ziele. Ungeachtet der unübersichtlichen Lage würde SPÖ-Verteidigungsminister Norbert Darabos nicht zögern, auch nach Mali österreichische Soldaten zu entsenden. „Probleme, die man in Afrika löst, werden nicht in Form von Flüchtlingsströmen auf Europa überschwappen“, tönt der Minister im Presse-Interview und verweist darauf, dass man sich im Tschad Kompetenz erworben habe. Wie sich die Lage im nördlichen Mali derzeit darstellt, weiß der französische Afrika-Experte Bernard Lugan, dessen Analyse Unzensuriert.at übersetzt hat.

 

Nach der desaströsen Intervention Frankreichs und der NATO in Libyen, die das regionale Gleichgewicht völlig zerstörte, haben islamische Fundamentalisten damit begonnen, die Sahelzone in ein neues Afghanistan umzuwandeln. Waren sie ursprünglich vom algerischen Geheimdienst eingesetzt worden – ähnlich wie die afghanischen Dschihadisten seinerzeit mit Hilfe der Amerikaner ans Ruder kamen – so benutzten sie nunmehr ihre völlige Autonomie, um auch gegen Algerien gerichtete Positionen einzunehmen. Die wichtigsten salafistischen Gruppen, die heute in der Sahelzone und der Sahara operieren, werden allerdings von Algeriern angeführt und setzen sich mit überwältigender Mehrheit aus Algeriern zusammen. Ihre Bewaffnung entstammt den herrenlos gewordenen libyschen Waffenarsenalen.

 

Azawad-Befreiungsbewegung gegen saharische Salafisten

 

Diese Gruppen, die vor allem im "arabischen" Teil der Sahara operieren, sind mit einigen Tuareg-Stämmen taktische Allianzen eingegangen, um auf diese Weise ihre Einflusssphäre zu erweitern. Auch als im Jänner 2012 der Aufstand der Tuareg in Mali ausbrach, welcher nominell von der Nationalen Bewegung für die Befreiung Azawads (Mouvement national de libération de l'Azawad, MNLA) unter Oberst Ag Gamou, einem ehemaligen Kommandanten der libyschen Armee, angeführt wurde, hätte es eine intelligente französische Politik vermocht, mit ihnen gegen die Islamisten zusammenzuarbeiten – ein Faktum, auf das ich immer wieder hingewiesen habe.

 

Heute haben sich zwei große Fronten in der westlichen Sahara gebildet. Die nördliche richtet sich direkt gegen die Algerier. Die zweite hingegen hat ihr Zentrum in Mali, wo derzeit zwei Kriege stattfinden. Einer geführt durch die Tuareg der MNLA, welche die Unabhängigkeit Azawads proklamiert hatten, der andere geführt durch verschiedene Fraktionen von saharischen Salafisten. Beide Kriege beruhen auf ethnischer Grundlage, da die MNLA von den Tuareg, im Wesentlichen denen des Stammes der Ifora, getragen wird, während sich die sogenannte Bewegung für Einheit und Dschihad in West-Afrika (Mouvement pour l'Unicité et le Jihad en Afrique de l'Ouest, MUJAO) aus Arabern oder seit langem arabisierten Berbern zusammensetzt. Letztere haben schon seit jeher mit den Tuareg um die Kontrolle der Trans-Sahara-Routen gekämpft und tun dies heute weiterhin, bloß unter dem Deckmantel des radikalen Islam.

 

Tuareg-Flügel der Dschihadisten lief über

 

Die ethnisch-religiöse Spaltung ist somit sehr deutlich. Dies gilt auch für die Bewegung Ansar Eddine (Verteidiger des Glaubens), ebenfalls Dschihadisten, die jedoch ursprünglich an der Tuareg-Rebellion beteiligt waren. Ihr Gründer, Ayad Ag Ghaly, ist eine historische Figur des Tuareg-Irredentismus; er gründete die Bewegung, nachdem ihn seine Brüder vom Stamm der Ifora mit der Begründung aus der Führung der späteren MNLA verdrängt hatten, er hätte unter Oberst Gaddafi gedient. Um sich eine neue Daseinsberechtigung zu schaffen, stützte er sich fortan auf die Salafisten. Nachdem seine Machtstellung durch einen seiner militärischen Befehlshaber, einen Araber namens Omar Hamaha, in Frage gestellt wurde, kam es innerhalb der Bewegung Ansar Eddine zu einer Spaltung entlang ihrer ethnischen Grenzen, wobei die Tuareg-Fraktion sich für die Unabhängigkeit Azawads aussprach, während die arabische Fraktion sich dieser Unabhängigkeit widersetzte und stattdessen die Schaffung eines transnationalen islamischen Kalifats forderte.

 

Zu Beginn der zweiten Maiwoche lief die Tuareg-Fraktion von Ansar Eddine letztendlich zur MNLA über, als in Gao eine Konferenz der Tuareg-Stammesführer stattfand, die eine gemeinsame Politik gegen die islamistische Bedrohung beschließen wollten, um die eben erlangte Unabhängigkeit behaupten zu können. Bei diesem Treffen wurde den Islamisten ein Ultimatum gestellt, das sie auffordert, bis zum 17. Mai das Land zu verlassen; danach würden sie als Feinde betrachtet und vertrieben werden. Um nicht das Gesicht verlieren, willigte Ayad Ag Ghali, dessen plötzlicher islamischer Eifer selbst für sein Umfeld eher überraschend erschien, ein, die Frage der Einführung der Scharia von der Abhaltung einer Volksbefragung abhängig zu machen, die jedoch erst nach der tatsächlichen Erlangung der Unabhängigkeit Azawads stattfinden sollte. Auch betreffend des Namens des neuen Staates wurde vereinbart, dass dieser nicht Islamische Republik Azawad, sondern schlicht Republik Azawad lauten sollte.

 

Neue republikanische Bewegung für Autonomie, nicht Unabhängigkeit

 

Ein weiteres Novum war, dass Oberst Ag Gamou, ein Tuareg vom Stamme der Imghad, vor kurzem die Gründung einer Republikanischen Bewegung für die Wiederherstellung Azawads (Mouvement républicain pour la restauration de l’Azawad, MRRA) angekündigt hatte. Diese bewaffnete Gruppe stützt sich auf verschiedene Völkerschaften im Norden Malis wie Songhay, Peul (Fulani), Araber und einige Tuareg-Stämme, widersetzt sich dem Islamismus und tritt für eine Autonomie, nicht jedoch für die vollständige Unabhängigkeit Azawads ein. Die MRRA wird von Mauretanien und insbesondere von Algerien unterstützt, das einen Tuareg-Staat als quasi-rechtsfreien Raum südlich seiner Staatsgrenze vermeiden möchte.

 

Das Erstarken der MRRA könnte die lokalen Machtverhältnisse insofern umkrempeln, als der Stamm der Imghad bei allen Tuareg in hohem Ansehen steht und ihm auch von Seiten der Nationalen Front für die Befreiung Azawads (Front national de libération de l’Azawad, FNLA) Unterstützung gewährt wird, einer hauptsächlich maurisch-arabischen Bewegung, welche ebenfalls gegen die Islamisten, jedoch für eine Unabhängigkeit Azawads eintritt. Wenn  der ehemalige Kommandeur der Region Mopti, Oberst Ould Meidou, ein Araber, sich ebenfalls der MRRA anschließt, wofür es einige Anzeichen gibt, dann könnte sich die Machtlage zu Lasten der Islamisten und der MNLA noch völlig ändern. Wenn letztere zu einem ethno-geographischen Rückzug in jene Landesteile Azawads gezwungen wird, die reines Tuareg- und Wüstengebiet darstellen, wäre dies gleichbedeutend mit ihrer völligen Marginalisierung.

 

Die verstärkten Gruppierungen rund um die MRRA könnten somit die Islamisten in die Defensive drängen und die MNLA dazu zwingen, ihre Unabhängigkeitserklärung wieder rückgängig zu machen. Mehr als die von den Islamisten ausgehende Gefahr, die mehr oder minder gebannt zu sein scheint, ist im Augenblick jedoch die größere Wahrscheinlichkeit die, dass Bruderkriege zwischen den Tuareg-Stämmen der Ifora und der Imghad, zwischen den aus Libyen stammenden Ifora und jenen unter der Führung von Ag Ghaly, sowie zwischen Arabern und Tuareg aufflammen.

 

Lösung kann nur größtmögliche Autonomie sein

 

Jedenfalls hat sich Azawad der Kontrolle Bamakos völlig entzogen, und dies unabhängig von der Frage, ob die Landkarte neu gezeichnet werden muss oder nicht. Eine Option zur Beendigung der Krise könnte daher darin bestehen, dass dieser riesigen Region ein sehr hoher Grad an Autonomie zugestanden wird; die drei ethno-geographischen Hauptbestandteile der Region sind: der südliche Teil entlang dem Flusslauf des Niger, der vor allem von Songhai und Peul (Fulani) bevölkert ist; der nördliche Teil, also das Zentrum von Azawad, welcher Tuareg-Gebiet darstellt; und letztens die "arabische" Westsahara.

 

Wenn das natürliche Streben jeder menschlichen Gesellschaft, nämlich das Prinzip "ein Staat –  ein Volk" verwirklicht werden sollte, dann wäre es auch möglich, das Problem des Islamismus mit militärischen Mitteln zu lösen, zumal dessen Versuch, den Völkern der Sahara-Sahel-Zone einen künstlichen universalistischen Überbau überzustülpen, mit dem klaren geschichtlichen Rollenbild dieser Völker unvereinbar ist.

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