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30. Mai 2010 / 11:06 Uhr

Birg: “Am Arbeitsmarkt wird zu Lasten der Familien diskriminiert!”

Vier Konfliktebenen skizziert Herwig Birg, Professor für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bielefeld. Vier Konflikte, die sich aus den umfassenden Umwälzungen der Bevölkerungsstruktur ergeben. Im Unsensuriert-Interview spricht Birg über Möglichkeiten zur Trendumkehr, aber auch über Folgen der aktuellen Entwicklungen.

Unzensuriert: Herr Professor Birg, Sie haben die Konflikte angesprochen. Das wären potentielle Punkte, wo man ansetzen könnte. Wenn ich den von Ihnen erwähnten Verfassungskonflikt hernehme, so kann man die Bevölkerung nicht dazu verpflichten, die Erziehung der künftigen Beitragszahler in größerer Zahl zu erledigen. Welche Ansätze sehen Sie in der Familienpolitik, um wieder eine Geburtenrate zu erreichen, die eine Reproduktion der Bevölkerung aus eigenen Kraft ermöglicht?

Birg: Man müsste eine Vielzahl von Instrumenten einsetzen. Fangen wir an mit einer Grundgesetzänderung. Jedes Gesetz müsste einem Demographie-Check unterzogen werden auf seine Auswirkungen auf die Familien und auf die demographische Entwicklung. Dann müsste die Ungerechtigkeit gegenüber den Familien beseitigt werden. Die Verfassung verlangt ja eine Unterstützung der Familien. In Wahrheit – wie alle Untersuchungen belegen – wird jedoch der Nichtfamiliensektor – also die Menschen ohne Nachwuchs – von den Menschen mit Nachwuchs finanziell netto unterstützt. Das verletzt die Verfassung, das müsste also einmal abgeschafft werden.

Und dann müsste als neue zusätzliche Maßnahme eine Wahlfreiheit zwischen Erwerbsarbeit und Familienarbeit geschaffen werden beziehungsweise müssten Menschen, die beides wollen, das vereinbaren können. Mein Vorschlag: Sämtliche Kinderbetreuungseinrichtungen ab dem Vorschulalter sollen steuerfinanziert werden. Das gehört sich so, weil davon lebt jede Gesellschaft, dass die die Familie als “Keimzelle” jeder Gesellschaft überlebt und stabil ist. Das gehört durch Steuern finanziert.

Wer Kinder erzieht, soll am Arbeitsmarkt bevorzugt werden

Ein anderer Vorschlag von mir wäre, dass man bei der Besetzung jedes Arbeitsplatzes ein neues Prinzip einführt und fragt, wer von gleich qualifizierten Bewerben Familienlasten trägt. Und jene, die Kinder erziehen oder Familienangehörige pflegen, sollten dann bei gleicher Eignung den Vorzug bekommen.

Das gehört sich an sich sowieso, aber ist familienpolitisch extrem wichtig, weil bisher – und das ist auch verfassungswidrig – auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert wird, und zwar zu Lasten der Familien. Bevorzugt werden familienlose frei fungible Männer und Frauen. Die Chefsekretärin wird gewählt, die keine Kinder hat, die krank werden könnten, wenn der Chef verreisen muss. Das ist Praxis. Natürlich kann man den Vorrang für Menschen mit Familienlasten nicht rechtlich erzwingen, aber man kann es im Öffentlichen Dient einführen und man kann dafür werben, dass sich Unternehmen freiwillig anschließen.

In der Familienpolitik braucht an einen langen Atem

Wenn man darüber wenigstens als Ziel reden würde, dann könnte man eine Bewussteinsänderung erreichen, ohne die keine Verhaltensänderung denkbar ist. Die Menschen müssten sich überlegen, dass das tatsächlich wichtig ist und sich in ihrem Handeln daran orientieren. So wie früher in den Siebziger Jahren, als das Umweltbewusstsein aufkam, gesagt wurde: Ach, den Müll sortieren die Deutschen niemals, das ist Quatsch. Und heute ist es eine Art Grundtugend, dass Leute den Müll sortieren. Das ist heute gar nicht mehr wegzudenken. Es hat lange gedauert – drei, vier Jahrzehnte – und so einen langen Atem braucht man auch in der Familienpolitik.

Unzensuriert: Sehen Sie in der Gesundheitspolitik Entwicklungen, die Richtung Zweiklassenmedizin gehen und bestimmte Behandlungen nur noch bei privater Vorsorge ermöglichen?

Birg: Das ist eine Automatik. Der Anteil und die absolute Zahl der Älteren wächst so stark, dass die Gesundheitskosten explodieren, wobei gleichzeitig die Einnahmen wegen der schrumpfenden Zahl der erwerbstätigen Beitragszahler nicht ausreichend mitwachsen, wenn nicht sogar zurückgehen. Es müssten also entweder die Beitragssätze auf unzumutbare Weise erhöht oder das Leistungsniveau des Gesundheitssystems auf ebenso unzumutbare Weise verringert werden – ein unlösbarer Konflikt. Dasselbe gilt für die Renten- und Pflegeversicherung.

Der Sozialstaat im bisher gewohnten Sinn, der dafür sorgt, dass die gröbsten Ungleichgewichte vermieden werden, kann das nicht und wird das nicht leisten können. Die Konsequenzen sind ein permanenter Verteilungsstress zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und den regionalen Lebensräumen.

Immer mehr Dörfer können Daseinsfürsorge nicht mehr leisten

Denn auch auf regionaler Ebene gibt es immer mehr Dörfer und kleine Gemeinden die das, was man Daseinsfürsorge nennt, nicht mehr leisten können – also elementare Sachen wie Versorgung mit Frischwasser, Beseitigung von Abwasser, Reparatur von Straßen, Verwaltungsdienstleistungen, Stromversorgung – all das ist jetzt in Frage gestellt, weil sich die Investitionen umso weniger lohnen, je weniger Einwohner noch in einem Dorf leben. Deshalb sagen Verfassungsjuristen, dass der Grundsatz, dass gleichwertige Lebensbedingungen in allen Regionen hergestellt werden müssen, nicht mehr einzuhalten ist. Dieses Problem wird durch die zunehmenden Unterschiede der regionalen Lebensbedingungen von Jahr zu Jahr drängender. Die Probleme sind in Deutschland bereits akut, in Österreich vielleicht nur in gemilderter Form. Aber die Differenz Wien zu Rest-Österreich ist ja auch nicht von Pappe.

Demographie als Damoklessschwert für die Demokratie

Im nächsten Teil des Unzensuriert-Interviews schildert Professor Birg, wie man aus der bereits erfolgten Zuwanderung das Beste macht, welche Regeln man dafür künftig aufstellen sollte und warum die Demographie ein Damoklesschwert für die Demokratie ist.

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