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22. August 2010 / 10:55 Uhr

Estland – Der baltische Tiger

In Anlehnung an die Tigerstaaten Ostasiens werden die baltischen Staaten wegen ihrer dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung oftmals als baltische Tiger bezeichnet. Estland, das von allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion den höchsten Lebensstandard bei der niedrigsten Staatsverschuldung erreicht hat, verdient diesen Namen noch vor Litauen und Lettland, auch wenn diese beiden Staaten ebenfalls enorme Fortschritte erzielt haben. Neben seinen wirtschaftspolitischen Errungenschaften blüht seit dem Ende des Kommunismus auch die estnische Kultur wieder auf, sodass das kleine Land in Nordosteuropa einer sehr positiven Zukunft entgegenblickt.

Ritter und Kaufleute, Schweden und Russen

Wie auch in Lettland so standen im Hochmittelalter große Teile Estlands unter der Herrschaft zuerst des Schwertbrüder- und dann des Deutschen Ritterordens. Bereits in dieser Zeit siedelten sich viele Deutsche in der Region an, sodass auch Estland zu einem der Zentren der Deutschbalten wurde. Begünstigt wurde diese Entwicklung noch durch die engen wirtschaftlichen Beziehungen zur deutschen Hanse. Neben Deutschen kamen auch viele Schweden ins Land, so dass diese beiden Gruppen die größten und einflussreichsten Minderheiten bis zum Zweiten Weltkrieg bildeten.

Nach dem Zerfall des Ordensstaates wurde der größte Teil Estlands schwedisch, 1629 dehnten die Schweden ihre Herrschaft über ganz Estland aus. Nach der Niederlage Schwedens im Großen Nordischen Krieg fiel Estland 1710 an das Zarenreich. Konnten die deutsch-schwedische Oberschicht und die estnische Landbevölkerung ihre alten Freiheiten zunächst noch längere Zeit erhalten, so setzte im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Politik der Russifizierung ein, welche die alten Eliten ebenso einschränkte wie die entstehende estnische Nationalbewegung; der Erste Weltkrieg beendete diese Phase.

Von Unabhängigkeit zu Unabhängigkeit

Noch vor dem Einmarsch deutscher Truppen proklamierte der estnische Nationalrat im Februar 1918 die Unabhängigkeit. Doch erst mit dem estnischen Selbstständigkeitskrieg von 1918 bis 1920, in dem sich die Truppen der jungen Republik zunächst mit deutscher, dann mit britischer Hilfe gegen die Bolschewiki durchsetzten, wurde die neu erlangte Freiheit gefestigt. Bis zur Weltwirtschaftskrise entwickelte sich das Land wirtschaftlich und kulturell sehr gut, politisch war es stabil.

Nach 1933 erhielt die rechts stehende, teilweise als faschistisch bezeichnete Bewegung der Veteranen des Freiheitskrieges immer mehr Zulauf. Um einen Sieg dieser Bewegung bei den Präsidentschaftswahlen 1934 zu verhindern, übernahm der konservative Politiker Konstantin Päts im März dieses Jahres nach einem Staatsstreich die Macht und regierte das Land bis Juni 1940 autoritär. Das Bild rechts zeigt ein Denkmal für Päts, der später in sowjetischer Haft verstarb.

Nachdem Estland im Hitler-Stalin-Pakt der sowjetischen Einflusssphäre zugesprochen worden war, besetzte die Rote Armee im Juni 1940 das Land, im August wurde es als Estnische SSR der Sowjetunion eingegliedert. Bereits zuvor waren die meisten Deutschen in das Deutsche Reich umgesiedelt worden. Von Sommer 1940 bis zum Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im August 1941 wurden zehntausende Esten in die kommunistischen GULAGs deportiert, wo der Großteil umkam. Nach dem Rückzug der Wehrmacht 1944 wurden abermals tausende deportiert, danach setzte eine starke Russifizierungswelle ein, so dass der Anteil der Russen von ca 8 % 1934 auf ein Drittel der Bevölkerung anstieg.

Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 erlangte Estland seine Unabhängigkeit wieder. 2004 trat das Land sowohl der NATO als auch der EU bei.

Verein Studierender Esten

Von besonderer Bedeutung für die Ausbildung eines eigenen Nationalgefühls war der „Verein Studierender Esten“. Nach dem Vorbild der Deutschbaltischen Studentenverbindungen, die an den Universitäten des Baltikums bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dominant waren, wurde 1883 an der Universität Tartu/Dorpat der Verein Studierender Esten von einer Gruppe junger estnischer Studenten gegründet. Der Verein beschäftigte sich intensiv mit estnischer Kultur und Geschichte und wurde zum Sammelpunkt patriotischer estnischer Intellektueller. 1918 wurden die Farben des Vereins Blau-Schwarz-Weiß zur estnischen Nationalflagge erklärt. Nach seinem Verbot während der Sowjetzeit existiert der Verein seit 1988 wieder und ist heute ein wichtiger Sammelpunkt für national gesinnte Studenten und Akademiker.

Wirtschaftlicher Neubeginn mit Zukunft

Wie kein anderer Nachfolgestaat organisierte Estland nach 1991 sein Wirtschaftsleben neu. Die aufgeblähte staatliche Verwaltung wurde stark reduziert und transparent gestaltet, der Anteil des Staatssektors am Wirtschaftsaufkommen liegt bei nur knapp über zehn Prozent. Das Budget konnte nach 1993 regelmäßig ausgeglichen gestaltet werden, sodass die Staatsverschuldung extrem niedrig ist. Durch strenge Vorgaben von der Bundes- bis zur Gemeindeebene ist es den staatlichen Verwaltungsorganen kaum erlaubt, Schulden zu machen. Die Einkommenssteuer liegt derzeit bei einem Einheitssteuersatz von 21 Prozent.

Durch steuerliche Begünstigungen ist das Land auch für ausländische Investoren sehr attraktiv, so dass Estland im Verhältnis zu Größe und Einwohnerzahl eine sehr hohe Investitionsquote aufzuweisen hat; Hauptinvestor ist Schweden. Die Estnische Krone ist sehr stabil, und Estland soll 2011 Mitglied der Eurozone werden.

Der Dienstleistungssektor ist in Estland sehr gut entwickelt, vor allem im Bereich der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien. Jeder Bürger hat einen gesetzlich garantierten Zugang zum Internet; im ganzen Land sind Hot-Spot-Internetzugangspunkte aufgebaut. Außerdem gibt es fast tausend öffentliche Terminals für Gratis-Internetzugang.

Von Mythen, Legenden und Sängerfesten

Ab dem 19. Jahrhundert begannen sich Intellektuelle mit der estnischen Volkskultur zu beschäftigen und diese auch schriftlich festzuhalten. Das bedeutsamste Ergebnis dieser Bemühungen ist das Epos um den heldenhaften Riesen Klevipoeg, das ab 1857 erschien und großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der estnischen Lyrik und Schriftsprache hatte. Daneben fanden ab den 1860er Jahren große Sängerfeste in Estland statt. Am 11. September 1988 wurde das Sängerfest „Estlands Lied 1988“ zu einem kraftvollen Bekenntnis zu estnischer Kultur und Eigenständigkeit. Die Veranstaltungen haben weiterhin große Tradition. Das Foto zeigt die Teilehmer an einem Jugend-Sängerfest im Jahr 2007.

Gut gerüstet ins 21. Jahrhundert

Die Wirtschaftskrise hat Estland nach 2008 schwer getroffen, so stieg die Arbeitslosigkeit von unter vier auf über zehn Prozent. Inzwischen beginnt sich das Land wieder zu erholen und ist trotz dieses Rückschlages gut gerüstet für das 21. Jahrhundert. Die effiziente Verwaltung, geringe Staatsverschuldung, ein modernes Steuersystem und die gut ausgebaute Infrastruktur, vor allem im Bereich des IT-Wesens bilden eine solide Grundlage für eine positive künftige Entwicklung. Mit der russischen Minderheit bestehen ähnliche Probleme wie in Lettland, die allerdings nicht so konfliktreich sind.

20 Jahre nach dem Kommunismus

Unzensuriert.at beleuchtet jedes Wochenende ein Land, das bis vor 20 Jahren unter kommunistischer Herrschaft stand. Bisher veröffentlicht:

Fotos: HendrixEesti / Vdegroot / Sargoth / Tallinna Lilleküla Gümnaasium

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