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24. Oktober 2010 / 15:38 Uhr

Fall Kampusch: Schwere Vorwürfe gegen Ermittlungsbehörden

Für die heimische Justiz ist der Entführungsfall Natascha Kampusch spätestens seit Ausschluss der Mittäter-Theorie durch die Oberstaatsanwaltschaft endgültig aktenreif. Doch wenn gleich zwei ehemalige Höchstrichter – zuerst der langjährige Präsident des Verfassungsgerichtshofes Dr. Ludwig Adamovich, jetzt der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofes Dr. Johann Rzeszut – an die Öffentlichkeit gehen und die mannigfaltigen Fehler im Ermittlungsbereich anprangern, müsste es eigentlich eine gründliche Revision des Verfahrens geben.

Scheinbar gibt es die aber nicht. Denn weder Justizministerin Claudia Bandion-Ortner (ÖVP) sieht angesichts einer schier endlosen Vorwurfsliste über behördliche Versäumnisse akuten Handlungsbedarf, noch das österreichische Parlament will einen aufklärenden Untersuchungsausschuss zum Fall Kampusch einberufen.

Höchstrichter bittet Parteien um Hilfe, weil Justiz versagt

Schon alleine das mehrseitige Schreiben von Rzeszut (Bild rechts) an die fünf Klubobleute im Nationalrat hätte dazu reichlich Material geboten. Darin schildert der ehemalige Höchstrichter und Mitglied der sogenannten “Kampusch-Evaluierungskommission” sachlich nicht nachvollziehbare Vorgangsweisen der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit dem Entführungs- und Abgängigkeitsfall. Das Bemerkenswerte an diesem Schreiben: Rzeszut sucht Hilfe bei den Parteien, weil “eine sachdienliche ressortinterne Abhilfe auch in oberster Ebene nicht zu erwirken war”.

Rzeszut behauptet, die Anklagebehörden hätten “langfristige Verzögerung bzw. bis zuletzt gänzliche Unterlassung nachhaltigst indizierter wesentlicher Ermittlungsschritte” zu verantworten. Nach einem möglichen Komplizen des Peinigers Wolfgang Priklopil wäre nicht ernsthaft gesucht worden, und der Zeugin, die mehrmals angab zwei Männer im Kastenwagen gesehen zu haben, in dem Natascha Kampusch entführt wurde, sei “konsequent keine Beachtung” geschenkt worden. Darüber hinaus wurde selbst die wegen Ermittlungspannen eingesetzte Evaluierungskommission “justiziell behindert”.

Keine Rufdatenerfassung und blitzartige Räumung des Hauses

Zur Untermauerung seiner Vorwürfe beruft er sich etwa auf die unterlassene Auswertung der Rufdatenrückerfassung. So schreibt Dr. Rzeszut: Auf derselben Linie lag es, dass es von staatsanwaltschaftlicher Seite unter anderem auch nicht der Mühe wert befunden wurde, die (später als aussagerelevant verifizierten) Ergebnisse einer Rufdatenrückerfassung, die hinsichtlich sichergestellter Mobiltelefone angeordnet worden war, überhaupt nur zu sichten, geschweige denn auszuwerten.”

Damit nicht genug der Unregelmäßigkeiten. Unter anderem soll die Justiz das Priklopil-Haus in Straßhof bei Wien noch am Tag der Flucht von Natascha Kampusch wegen einer angeblichen mündlichen Bevollmächtigung der Mutter Priklopils zur “teilweisen, unkontrollierten Räumung” durch den Freund und Geschäftspartner des Entführers, Ernst H., freigegeben haben. Eine solche Vollmacht wurde später allerdings nie bestätigt. Pikanterweise stützten die in dem Haus sichergestellten DNA-Spuren schließlich die Einzeltäter-These der Oberstaatsanwaltschaft.

In einem anderen Punkt wiederum schlägt Rzeszut in die selbe Kerbe wie Ludwig Adamovich (Bild links). Beide glauben, Kampusch hätte sich “mit der Täterseite arrangiert”, weil “ein Kind ohne die Erfahrung funktionierender familiärer Geborgenheit möglicherweise sehr bald dazu geneigt war, das Angebot einer verlockend dargestellten, familienfernen Lebensalternative anzunehmen”. Für eine ähnliche Aussage wurde Ludwig Adamovich in erster Instanz wegen übler Nachrede verurteilt.

Auslöser für den Hilfeschrei des pensionierten OGH-Präsidenten soll der mutmaßliche Selbstmord des Leiters der SOKO Kampusch, Polizeioberst Franz Kröll, gewesen sein. Dieser soll sich Ende Juni 2010, sechs Monate nach Präsentation des Abschlussberichts der Evaluierungskommission und der endgültigen Einstellung der Ermittlungen, auf seiner Terrasse in Graz erschossen haben. Laut Rzeszut eine “Verzweiflungstat”, weil der Chef-Ermittler in den Monaten zuvor einer “sachlich nicht vertretbaren Druckausübung” ausgesetzt gewesen sei, indem man ihm im November 2009 “unmissverständlich” nahe gelegte habe, den Ermittlungsakt sofort zu schließen.

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