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Eintauchen in ein bewegendes Stück österreichischer Geschichte: Birgit Mosser beschreibt den “Sturz des Doppeladlers”.

3. Oktober 2016 / 09:00 Uhr

“Der Sturz des Doppeladlers”: Vom stolzen Habsburger-Reich zum Zwergstaat

Der Todestag des Österreichischen Monarchen Franz Joseph I. am 21. November 1916 jährt sich in wenigen Wochen zum hundertsten Mal. Angesichts der Fülle von Franz-Joseph-Biographien und ähnlicher Werke rund um die Habsburgerfamilie suchte Autorin Birgit Mosser einen völlig anderen Zugang: Sie schildert die letzten zwei Jahre der Donaumonarchie aus der Sicht von vier Familien aus völlig unterschiedlichen sozialen Schichten, vom adeligen, hohen Ministerialbeamten bis hinunter zur Dienstmagd, die sich teils überlappen.

Hungern und frieren im dritten Kriegsjahr 1916

Das dritte Kriegsjahr 1916 wirkt sich vor allem in den Städten bereits merkbar negativ auch auf die Zivilbevölkerung aus. Zwar werden die Städte nicht bombardiert, wie 27 Jahre später, aber die Versorgungslage ist umso katastrophaler, es mangelt an allem und jedem. Lebensmittel sind streng rationiert, und selbst mit Bezugskarten muss man sich in aller Herrgottsfrüh stundenland vor den Geschäften anstellen, ohne dabei sicher sein zu können, noch etwas zu bekommen.

Genußmittel wie Kaffee sind selbst in den guten Kaffeehäusern nicht mehr zu bekommen, stattdessen gibt es einen Sud aus Eicheln, Zichorie und Kastanien, sogar das Brot wird bereits mit Sägemehl gestreckt. Die Fleischrationen werden immer kleiner, Heizmaterial ist Mangelware, die Leute frieren und hungern erbärmlich. Der Schleichhandel blüht, nicht selten tauschen Frauen ihren Hochzeitsschmuck gegen eine Handvoll Zucker und ein paar Kilo Erdäpfel.

Kein Platz für Mütter mit "ledigen Kindern"

Wer das Glück hat, in einer wohlhabenden Wiener Familie zum Gesinde zu gehören, wie die südmährische Einwanderin Berta Sogl, hat zumindest noch einen gewissen Lebensstandard. Allerdings ist Bertas Verlobter Franzl an der russischen Front. Fast zeitgleich erfährt sie, dass sie schwanger ist und dass Franzl am Feld der Ehre gefallen ist.

Für die „Herrschaft“ fällt sie somit als Arbeitskraft aus und wird auf die Straße gesetzt. Mit einem „ledigen Kind“ hat sie in der damaligen Gesellschaft kaum eine Chance auf ein lebenswürdiges Dasein, Sozialhilfen gibt es kaum. Nur durch Zufall lernt sie einen sozial eingestellten Arzt kennen, der ihr, als die Wehen einsetzen, einen Platz im AKH verschafft, wo sie einen Sohn zur Welt bringt.

Die ersten Frauen als Tramway-Schaffnerinnen

In einer eiskalten Untermiet-Kammer am Alsergrund versucht sie, ihn aufzuziehen, und verdingt sich nächtens als einer der ersten weiblichen Tramway-Schaffner, eifersüchtig beobachtet von den männlichen Kollegen.

Als sie eines Tages einen verwundeten, zerlumpten Fronturlauber in der Straßenbahn antrifft, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann, stampert sie einen ignoranten, beleibten Fahrgast vom nächstbesten Sitz weg und bietet diesen dem erschöpften Soldaten an.

Der entpuppt sich als Kärntner Bauernsohn und fortan in seiner Dankbarkeit als äußerst hartnäckig. So entsteht bald eine Liebesbeziehung zwischen den beiden Entwurzelten. Lois hat kein Problem mit dem „fremden Kind“, will es sogar adoptieren und Berta heiraten.

Doch schon nach wenigen Wochen muss Lois wieder an die Front und für Berta beginnt das ungewisse Warten aufs Neue.

Schlechte Versorgung und Motivation an der Front

Wie schlimm die Lage in den Schützengräben bereits ist, erfahren wir durch den Tiroler Rechtsanwalt und Hoteliers-Sohn Julius Holzer. Der dient als Oberleutnant der Kaiserjäger an der Dolomitenfront. Unzureichende Winterausrüstung, Hunger-Rationen und Munitionsmangel plagen die k. u. k. Truppen.

Die schlechte Versorgungslage wird noch zusätzlich durch politische Agitatoren verstärkt, die den verschiedenen Volksgruppen wie Ungarn, Slowenen oder Tschechen Autonomie versprechen und sie zur Desertion aus der Armee aufhetzen, was immer öfter auch gelingt. Ganze Frontabschnitte sind plötzlich entblößt, weil etwa ungarische Einheiten geschlossen desertiert sind oder den weiteren Dienst mit der Waffe verweigern.

Ungarn verweigern weiteren Dienst mit der Waffe

Es kommt zu unschönen Szenen, in denen Kompanieführer Holzer, eigentlich ein Philanthrop, mit vorgehaltener Waffe eine ungarische Einheit zwingen muss, wieder in den Einsatz vorzurücken. Immerhin: Normalerweise steht auf Desertieren die Todesstrafe. Aber wie eine ganze Kompanie mit 150 Mann erschießen?

Als in den Stellungen am Col di lana, wegen der beiderseits verlustreichen Kämpfe auch „Col di sangue“ (Blutberg) genannt, plötzlich Tag und Nacht Erschütterungen und Bohrgeräusche zu vernehmen sind, bringt ein Aufklärungstrupp die befürchtete Erkenntnis: Die Italiener sind dabei, den Berg zu unterminieren und zu sprengen. Für Gegenmaßnahmen – etwa Parallelbohrungen und Gegensprengungen der Stollen – ist die Zeit zu knapp.

Italiener sprengen den Blutberg "Col di sangue"

Als Holzer seinen noch immer an den Sieg glaubenden Vorgesetzten die Lage schildert, bekommt er den Befehl, die wichtigen Bergstellungen um jeden Preis zu halten. Das kommt einem sicheren Todesurteil für die gesamte Truppe in diesem Abschnitt gleich.

Letztlich überlebt Holzer wie durch ein Wunder als einer der ganz wenigen schwer verwundet und schleppt sich ins nahe Hotel seiner Familie, das mittlerweile zum Lazarett umfunktioniert wurde.

Demütigungen und Gefangenschaft trotz Waffenstillstand

Kaum halbwegs genesen und hochdekoriert wieder auf seinem Posten, ereilt ihn im November 1918 die Nachricht vom Oberkommando: Alles ist aus, Waffenstillstand. Als er mit seiner Truppe abrückt, werden sie aber plötzlich von Italienischen Einheiten überholt, umstellt, entwaffnet, misshandelt und gedemütigt. Der junge Offizier wird in ein Gefangenenlager auf Sardinien verschleppt, wo die Zustände haarsträubend sind und er nur durch ein „Wunder“ gerettet wird.

Besonders beklemmend wirkt auf den Leser die Ausweglosigkeit, mit der sich Bürger und Soldaten spätestens seit dem Tod Franz Josephs durch diesen Krieg schleppen, der vor allem durch die inneren Probleme des Vielvölkerstaates nicht mehr zu gewinnen ist.

Rote Horden überfallen Offiziere auf den Straßen

Viel trägt dazu auch das Unvermögen des Adels und damit der Regierenden bei, die Zeichen der Zeit zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Als dann plötzlich roter Mob Offiziere auf den Straßen überfällt, sie mit Dreck bewirft und ihnen die Orden und Rangabzeichen von den Uniformen reißt, ist das Entsetzen groß. Nicht zuletzt, weil der als schwach und wankelmütig geltende junge Kaiser Karl allzu plötzlich aus Schönbrunn verschwindet und auf den Thron verzichtet.

Österreich ist plötzlich nur noch ein Zwergstaat

Der letzte Akt des Unterganges der großen Habsburger-Monarchie beschreibt nur noch den verzweifelten Kampf um jeden Kilometer Grenze und jede Stadt, die dem verbleibenden „Rumpf-Österreich“ von den rachsüchtigen Siegern gnädig zugestanden wird. Selbst der mehrheitlich ersehnte Anschluss an das Deutsche Reich wird von den Siegern untersagt – niemand rechnet mit einer Überlebens-Chance für das winzige Staatsgebilde namens Deutsch-Österreich.

Birgit Mosser: Der Sturz des Doppeladlers.
Amalthea-Verlag, € 22,00

Erhältlich auch über den Kopp-Verlag.

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