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Die EU-Gesetze schreiben den nationalen Staaten vor, dass Familienleistungen bei einer Erwerbstätigkeit im Inland zu bezahlen sind, wenn das Kind im Ausland lebt.  Diese skurrile Praxis wurde bis dato wohl noch nie hinterfragt.

25. September 2019 / 17:48 Uhr

Umfrage: Soll Kindergeld ins Ausland bezahlt werden?

Unzensuriert hat mehrmals darüber berichtet, warum Österreich seine Familienleistungen an Kinder bezahlen muss, die nicht in Österreich leben. Unzensuriert hat auch angeregt, dass das entsprechende EU-Gesetz gestrichen werden sollte. Leser, die an dieser Umfrage teilnehmen wollen, sollen anbei eine ausführliche Argumentation erhalten, warum es in diesem Fall besser ist, mit „Nein“ zu votieren.

Dass Familienleistungen nicht ins Ausland bezahlt werden sollten, soll jetzt nicht damit erklärt werden, dass die Kinder im entsprechenden Land niedrigere Lebenserhaltungskosten haben.  Auch ein möglicher Neid oder ein „Wir Österreicher zahlen nicht für die anderen“ sollen nicht als primäres Argument dienen.

Vielmehr geht es darum, dass formalrechtlich der Export von Familienleistungen in einem EU-Gesetz verankert ist, das vom Grundgedanken nicht geeignet ist, Familienleistungen zu koordinieren. Es geht um die EU-Verordnung 883/2004. Diese Verordnung regelt, wie der „freie Personenverkehr“ und der „freie Dienstleistungsverkehr“ in Bezug auf Leistungsansprüche wie Renten oder Arbeitslosengeld funktionieren muss. Zusätzlich gibt es noch die Durchführungsverordnung 987/2009. Die Idee dahinter: Arbeitet ein EU-Bürger in einem anderen Mitgliedsstaat, so hat er dort die gleichen Rechte und Pflichten und daher auch die gleichen Leistungen zu erwarten. Die Verordnung besagt, wie Leistungen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Pensionen, Vorruhestand, Invalidität oder Sterbegeld zu regeln sind. Auch Mutterschaft und Familienleistung sind Teil dieser Verordnung.

Erwerbstätigkeit im Widerspruch zu Familienleistungen

Bei den meisten Leistungen sind eine Erwerbstätigkeit und damit das Einzahlen in eine Versicherung eine Voraussetzung. Bei Familienleistungen wird allerdings ein schwerer Fehler begangen bzw. etwas angenommen, was faktisch nicht der Realität entspricht. In durchwegs allen 32 Mitgliedsstaaten, die die EU-Verordnung anwenden müssen, werden Familienleistungen nicht aufgrund einer Erwerbstätigkeit überwiesen. Daher ist es auch nicht wesentlich, ob für den Bezug einer Familienleistung in ein System eingezahlt wird. Und nicht nur das: Es gibt Staaten, die Familienleistungen an eine Einkommenshöhe knüpfen. Wer zu viel verdient, bekommt nichts. Anders gesagt, wer viel ins System einzahlt und deswegen eine Leistung zu erwarten hätte, hat keinen Anspruch auf Familienleistungen.

Allein schon unter diesen Aspekt erscheint es nicht angemessen, dass Familienleistungen in die EU-Verordnung 883/2004 fallen, weil die Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Die Verordnung regelt sie trotzdem, und es gibt dabei sehr widersprüchliche Gesetzestexte.

In Artikel 67 heißt es:

Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats.

Der Artikel nur für sich genommen besagt, dass, wenn ein Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat wohnt wie sein Kind, dieser Ansprüche von seinem neuen Wohnstaat erwirbt, und zwar auch dann, wenn er nicht arbeitet. Ausgenommen sind Pensionisten, bei denen eine Erwerbstätigkeit vorhanden war. Diese würden, selbst wenn sie in einen anderen Staat ziehen, Ansprüche auf Familienleistungen haben von dem Staat, wo sie die Pension beziehen, obwohl eine Erwerbstätigkeit dem Grunde nach keine Voraussetzung für den Bezug einer Familienleistung ist. Das ist in sich schon ein Unsinn.

Artikel 68 widerspricht Artikel 67

Und spätestens Artikel 68 widerspricht auch dem Artikel 67 in einem wesentlichen Punkt. Anders als Artikel 67 hält Artikel 68 fest, dass eine Erwerbstätigkeit von mindestens einem Elternteil vorhanden sein muss, damit Familienleistungen von zwei Staaten (dem Staat, wo der eine Elternteil mit dem Kind wohnt und jener Staat, wo der andere Elternteil lebt) bezogen werden können.

Das nimmt dann besonders skurrile Formen an. Lebt etwa ein Ungar in Österreich, während seine Frau mit seinem Kind in Ungarn lebt, so müsste Österreich gemäß Artikel 67 eine Familienleistung bezahlen. Wenn aber beide Elternteile nur Wohnortansprüche haben, folglich nicht erwerbstätig sind und auch keinen Pensionsanspruch haben, dann muss Österreich gemäß Artikel 68 keinen Cent bezahlen.

Ungleichbehandlung

Während Eltern mit ihrem Kind in Österreich die Familienbeihilfe auch dann erhalten, wenn sie nicht arbeiten, so müssen andere Elternteile, die ohne ihr Kind in Österreich leben, explizit arbeiten – zumindest einer der Elternteile. Ein Vergleich: Wenn ein Vorarlberger in Wien lebt, aber das Kind in Bregenz mit der Mutter, so wird für das Kind in jedem Fall eine Familienbeihilfe bezahlt. Für den Ungar, der in Wien lebt, aber die Mutter mit dem Kind in Budapest, müssten gemäß der EU-Idee die gleichen Rechte gelten – tun sie aber nicht. Die Verordnung führt zu einer Ungleichbehandlung, einer Diskriminierung.

Wirre Prioritätenregeln

Artikel 67 und vor allem die Prioritätenregeln in Artikel 68 führen auch noch zu abstrusen Konstellationen. Zuerst muss immer der Staat zahlen, in dem eine Erwerbstätigkeit vorliegt, gefolgt von Pensionsansprüchen. Liegt beides nicht vor, gibt es Ansprüche aufgrund des Wohnorts. Bestehen in beiden Staaten die gleichen Ansprüche, so ist immer jener Staat vorrangig zuständig, in dem das Kind lebt. Ist die Familienleistung dieses Staats geringer als die Leistung des anderen Staates, muss dieser noch eine Differenzzahlung überweisen. Allerdings wenn es nur Wohnortansprüche gibt, dann zahlt nur jener Staat seine Familienleistung, in dem das Kind lebt.

Folgende Konstellation ist möglich:

Wenn ein Elternteil in einem Staat arbeitet, der höhere Familienleistungen hat als jener Staat, wo der andere Elternteil mit dem Kind lebt und dieser Elternteil nicht arbeitet, dann zahlt erstgenannter Staat die volle Höhe seiner Leistung, während der Staat, wo das Kind lebt, NICHTS bezahlt.

Wenn umgekehrt der Elternteil, der mit dem Kind im Ausland lebt, arbeitet, während der andere Elternteil im Staat mit der höheren Familienleistung nicht arbeitet, so muss der letztgenannte Staat dennoch eine Differenzzahlung überweisen.

Arbeiten beide Elternteile, davon aber einer in einem Staat mit einkommensabhängigen Familienleistungen, so kann das dazu führen, dass ein Staat dennoch seine volle Familienleistung bezahlen muss, obwohl er nachrangig zuständig ist. Dies nämlich dann, wenn der vorrangig zuständige Staat nichts bezahlen muss, weil das Einkommen der Eltern für den Bezug der Familienleistung zu hoch ist.

Erstes Gesetz stammte noch von der EG

Die Grundidee, die erstmals von der Europäischen Gemeinschaft mit der Verordnung Nr. 3 des Rates vom 25. September 1958 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer zu Papier gebracht wurde, war gänzlich sinnbefreit.

Damals wurden Familienbeihilfen ab Artikel 39 geregelt.

So besagt Artikel 39:

Hängt nach den Rechtsvorschriften eines Mit­gliedstaats der Erwerb des Anspruchs auf Familien­beihilfen davon ab, dass Beschäftigungszeiten, Berufszeiten oder gleichgestellte Zeiten zurückgelegt worden sind, so berücksichtigt der zuständige Trä­ger dieses Staates, soweit erforderlich, alle im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats zurückgelegten Zeiten.

Dieser Artikel wäre nach gängiger Praxis nicht umsetzbar, da – soweit bekannt – kein Staat Familienbeihilfen explizit an die Voraussetzung koppelt, dass eine Erwerbstätigkeit vorliegen muss.

Nun zum Artikel 40. Darin heißt es:

Hat ein im Hoheitsgebiet eines Mitglied­staats beschäftigter Arbeitnehmer oder ihm gleich­gestellte Kinder, die im Hoheitsgebiet eines ande­ren Mitgliedstaats wohnen oder erzogen werden, so hat er für diese Kinder Anspruch auf Familienbeihilfen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, und zwar bis zur Höhe der Beihilfen, die nach den Rechtsvorschriften des zweiten Staates gewährt werden.

Die damalige Regelung sah vor, dass explizit nur Arbeitnehmer Anspruch auf Familienleistungen haben, was schon damals unlogisch war. Und man stelle sich folgende Konstellation vor: Ein Arbeitnehmer zieht in Land A, das 50 Euro Familienbeihilfe zahlt. Im Land B, wo sein Kind lebt, werden 200 Euro bezahlt. Der Arbeitnehmer würde dieser Regelung folgend von Land A, das üblicherweise nur 50 Euro zahlt, 200 Euro erhalten müssen, während Land B nichts zahlen muss. Würde das Kind in Land A wohnen und der Arbeitnehmer in Land B leben, würde er nur 50 statt 200 Euro bekommen.

Jene, die für diese Verordnung verantwortlich waren, dürften nicht sehr schlau gewesen sein. Auf die Verordnung 3/58 (Grundverordnung) wie auch 4/58 (Durchführungsverordnung) folgten die Verordnungen 1408/71 (Grundverordnung) wie auch 574/72 (Durchführungsverordnung). Und auch hier scheitert eine logische Gesetzesbildung.

In 1408/71 werden Familienleistungen ab Artikel 72 geregelt. Im Gegensatz zur Vorgängerverordnung fällt auf, dass Frankreich einen Sonderstatus hat. Außerdem sieht die Verordnung vor, dass Familienleistungen nicht nur an Erwerbstätige zu zahlen sind, sondern auch an Arbeitslose, und zwar dann, wenn sie Arbeitslosengeld beziehen.

Der Anspruch auf Familienleistungen oder Familienbeihilfen wurde aber ausgesetzt, wenn wegen der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit Familienleistungen oder Familienbeihilfen auch nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Familienangehörigen wohnen, zu zahlen waren. Anders gesagt: Hatten beide Elternteile eine Erwerbstätigkeit, musste nur jener Staat Familienleistungen bezahlen, wo das Kind lebt.

Die aktuellen Verordnungen 883/2004 (Grundverordnung) und 987/2009 (Durchführungsverordnung) setzen dem ganzen Unsinn die Krone auf, wie man anhand eingangs erwähnter Ausführungen festhalten kann. Wesentliche Parameter für einen Anspruch auf Familienleistungen sind: Anzahl und Wohnort der Kinder samt Alter, Aufenthalt der Eltern, das Vorhandensein von Erwerbstätigkeit, Pensionsanspruch oder nur Wohnortanspruch, welcher Staat die höhere Familienleistung hat und ob Familienleistungen einkommensabhängig sind.

Neue EU-Kommission gefordert

Obwohl alle Staaten Familienleistungen nicht aufgrund einer Erwerbstätigkeit gewähren, wird diese in allen Verordnungen als Voraussetzung für Leistungsansprüche angenommen. Das kann nicht funktionieren. Dennoch vollziehen seit mehr als 60 Jahren die Mitgliedstaaten die jeweils aktuellen Verordnungen, ohne diese auf ihre Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Die neue EU-Kommission wäre daher gefordert, diesem Treiben ein Ende zu setzen. Es ergibt rechtlich keinen Sinn, Familienleistungen in einen anderen Staat zu exportieren. Selbst eine Erwerbstätigkeit kann nicht dazu führen, dass nationale Gesetzgebungen umgangen werden.

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