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18. August 2011 / 10:38 Uhr

Somalia: Hintergründe der Hungerkatastrophe

Hungersnot in SomaliaIm ostafrikanischen Somalia sind aktuell 3,7 Millionen vom Hungertod bedroht. Internationale und deutsche Hilfsorganisationen schicken unvorstellbare Mengen an Nahrungsmittel in die betroffenen Regionen. Doch das Land leidet nicht nur unter der schwersten Dürre seit 60 Jahren. Somalia am Horn von Afrika ist vom Bürgerkrieg zerrissen und hat seit über 20 Jahren keine funktionierende Zentralregierung mehr. Die radikalislamische Al-Schabaab-Miliz, die gegen die Übergangsregierung kämpft, verbietet oder erschwert es den westlichen Organisationen, der leidenden Bevölkerung zu helfen. Der französische Afrika-Experte Bernard Lugan, bekannt und vielfach vom linken Establishment attackiert für seine kritischen Analysen, widmet sich in seinem aktuellen Beitrag den Hintergründen der Lage in Somalia und klärt über die Machtansprüche der dortigen Clans auf. Unzensuriert.at bringt eine deutsche Übersetzung. Das französische Original findet sich hier.

Danke, wir haben bereits reichlich gespendet…

Hungersnot in Somalia

Hungersnot in Somalia

Selbst tausende Tonnen an Hilfsgütern können den Hunger nicht lindern.
Hinter der Dürre herrscht eine brutale Rivalität der somalischen Stämme.
Foto: United Nations Photo / flickr

Somalia wird immer noch von einer Hungersnot betroffen, und immer wieder sieht man daher in den Medien diese schrecklichen Bilder, begleitet von wohlmeinenden Kommentaren und häufig auch einem Unterton von Schuldbewusstsein. Als ob wir Europäer eine Verantwortung trügen für diese Tragödie, deren beide Hauptursachen eindeutig identifiziert sind:

– Ein Stammeskrieg, der von traditionell rivalisierenden Clans ausgefochten wird.

– Eine Überbevölkerung von selbstmörderischem Ausmass, die das empfindliche ökologische Gleichgewicht der Region zerstört. Wie könnte es auch anders sein bei einer Brutto-Geburtenrate von über 48% und einer Geburtenrate pro Frau von 6,76 Kinder?

Geschichtliche Hintergründe der Hungersnot

Wenn man nun mittels einer intensiven Kampagne die Menschen auf eine erforderliche Intervention vorbereiten möchte, dann ist es zwingend notwendig, dabei auch die Kernfragen für das somalische Problem anzusprechen, da wohl nur die Rückbesinnung auf historische Realitäten die ansonsten hierzulande sofort einsetzende Humanitätsduselei ein wenig zügeln kann:

1.) Somalia befindet sich seit 1978 im Krieg. Die Spannungen bestehen nicht zwischen Volksgruppen, sondern zwischen Stammesgruppen, wobei sich die großen somalische Volksgruppe, die einen großer Teil des Horns von Afrika bevölkert, im wesentlichen aus aus drei größeren Gruppen (Darod, Iriri und Saab) zusammensetzt, welche wiederum in Stämme, Clans und Unterclans unterteilt sind, die miteinander seit eh und je in Fehde liegen. Gestern noch wegen Wasserstellen und Kameldiebstahl, heute meist wegen Schmuggels von Waffen und anderen "modernen" Gütern.

2.) Nach der Ermordung von Präsident Ali Shermake ergriff am 15. Oktober 1969 General Siad Barre die Macht. Es war ein Darod vom Stamme der Marehan. Im Jahr 1977 stürzte er seine Armee in den Ogaden-Krieg, der sich zu einem Abenteuer entwickelte. Zunächst gelingt es ihm, die äthiopische Armee zu vernichten, dann muss er nach einer Offensive in Somalia selber die Flucht ergreifen. Nach dieser Niederlage kommen die Stammesrivalitäten mit noch viel stärkerer Intensität zum Ausbruch, was schon die drei Buchstaben MOD zum Ausdruck bringen, unter denen die neue Regierung firmiert: die Abkürzung steht für Marehan-Ogadeni-Dhulbahante und somit für die drei Clans, die sich die Macht untereinander aufteilen.

3.) Unter den Darod bricht in der Folge ein schrecklicher Stammeskrieg aus. Der Hawiyé-Stamm setzt sich gegenüber dem Maheran-Stamm durch; am 27. Januar 1991 wird General Siad Barre gestürzt.

4.) Somalia wird nun von zwei verfeindeten Fraktionen des USC (United Somali Congress) regiert, einer Stammesbewegung der Hawiyé, wobei es zwischen dem Agbal-Clan von Ali Mahdi Mohamed und dem Habar Gedir-Clan unter der Leitung von "General" Mohamed Farah Aidid zu ständigen Auseinandersetzungen kommt. Am 18. Mai 1991 erklärt sich der Norden des Landes, das ehemalige britische Protektorat Somaliland, für unabhängig.

Somalia

Somalia

Machtverhältnisse im mehrfach gespaltenen Somalia

5.) Der Krieg der Milizen führt zu einer schrecklichen Hungersnot, welche wiederum die amerikanische Öffentlichkeit mobilisiert. In Frankreich startet Dr. Kouchner die Kampagne "einen Sack Reis für Somalia". Im Dezember 1992 führt ein US-Expeditionskorps eine bühnenreife Landeoperation durch, getragen von der Absicht, bei den Menschen in Somalia "die Hoffnung wiederzuerwecken". Diese Operation "Restore Hope" wurde im Namen einer neuen Doktrin gestartet, die speziell für diesen Anlass erstellt wurde, nämlich die Doktrin der humanitären Intervention, einer Art Kolonialismus der guten Gefühle. Die Operation scheiterte jedoch kläglich, sodass am 4. Mai 1993 die UNO die Vereinigten Staaten ablösen musste und ein Expeditionskorps von 28.000 Mann entsandte. Am 5. Juni wurden 23 pakistanische Blauhelme von der Miliz des "General" Aidid getötet; beim Versuch, sich an dem somalischen Kriegsherrn zu rächen, holt sich am 12. Juni ein amerikanisches Kommando blutige Köpfe. Am 3. Oktober verloren weitere 18 amerikanische Soldaten bei der Schlacht um Mogadischu, der sogenannten "Black Hawk Down"-Aktion, ihr Leben.

6.) Im März 1994 wurde in Nairobi ein Friedensvertrag zwischen den beiden Stammeschefs der Hawiyé unterzeichnet, doch blieb er ein Papier mit toten Buchstaben. Seit August herrschte totale Anarchie, wobei die Männer von Ali Mahdi den Norden von Mogadischu kontrollierten, die von "General" Aidid den Süden. Am 22. August wurden sieben indische Blauhelme getötet. Die Amerikaner zogen sich daraufhin zurück und hinterließen den somalischen Sumpf einem aus bengalischen und pakistanischen Soldaten bestehenden UN-Kontingent. Am 28. Februar 1995 musste eine neuerliche Operation namens "Unified Shield" gestartet werden, um die Unglücklichen herauszuholen, nachdem sie von lokalen Truppen als Geiseln genommen worden waren. Die UNO musste in Somalia eine bittere politische und militärische Niederlage in Kauf nehmen, welche sie 136 Tote und 423 Verletzte gekostet hatte.

7.) Die somalischen Clans befanden sich daraufhin wieder unter sich und bekämpften sich erneut mit allen Mitteln. Am 1. August 1996 wurde "General" Aidid im Kampf verwundet und starb. Sein Sohn Hussein Aidid folgte ihm als Chef seiner Partei, der USC/SNU (United Somali Congress/Somali National Union), was im Grunde nichts anderes war als seine Stammesmilizen, die sich aus dem harten Kern des Unterclans der Saad zusammensetzten, der wiederum eine Unterabteilung des Clans der Habr Gedir vom Stamme der Hawiyé war. Im Süden des Landes kämpften die Milizen von Hussein Aidid gegen die Rahanwein, die ihrerseits untereinander Clanfehden austrugen, während im Nordosten einige Teile der Darod unter Abdullahi Yusuf Ahmed im August 1998 eine autonome Region namens Puntland bildeten.

8.) Im Jahre 2004 kam es nach endlosen Diskussionen zwischen den Clanfraktionen zu einer Machtteilung, doch die sog. Übergangs-Bundesregierung schaffte es nicht einmal, sich in Somalia zu konstituieren und war gezwungen, von Kenia aus zu "regieren".

9.) Nun erschien eine neue Bewegung auf der Bildfläche Somalias, die islamischen Gerichte, deren Miliz, die Shabab (Jugend), drauf und dran war Mogadischu einzunehmen. Um sie zu stoppen, marschierte im Dezember 2006 die äthiopische Armee in Somalia ein, wozu sie zwar kein internationales Mandat besass, aber durch die Vereinigten Staaten ermuntert wurde.

10.) Mit der Abstimmung über die Resolution 1744 am 21. Februar 2007 autorisierte schliesslich der Sicherheitsrat der UNO die Entsendung einer Mission der Afrikanischen Union, die AMISOM. Die Afrikanische Union hatte zwar ursprünglich eine Truppe von 8000 Mann geplant, doch die Anzahl der Staaten, die sich freiwillig daran beteiligten, hielt sich in bescheidenen Grenzen, sodass diese Zahl nie erreicht wurde.

Humanitäre Hilfe unterstützt Islamisten

Seither wird mit Ausnahme von Somaliland und in geringerem Maße von Puntland das Land zu weiten Teilen von Islamisten kontrolliert. Für diese ist die Hungersnot geradezu ein Segen, denn:

– sie werden durch die "internationale Gemeinschaft" indirekt anerkannt, da diese mit ihnen über die Lieferung von Hilfsgütern wie Nahrungsmitteln verhandeln muss;

– sie können in der Folge die Machtübernahme im Lande vorantreiben;

– sie können lukrative Gewinne erzielen, indem sie Hilfgüter einfach "abzweigen", so wie es übrigens auch während der großen Hungersnot in Äthiopien in den Jahren 1984-1985 der Fall war.

Die Schlußfolgerung kann also nur lauten: wir haben auf diesem Terrain nichts verloren. Es sei denn natürlich, dass wir lieber Hilfsmittel in dieses "Fass ohne Boden" fließen lassen, statt sie unseren eigenen Obdachlosen und allen jenen französischen Familien, die sich daheim nicht mehr satt essen können, zukommen zu lassen.

Ich möchte abschließend meine Gedanken jenem französischen Offizier – und seiner Familie – zuwenden, der nunmehr bereits seit zwei Jahren Gefangener der somalischen Milizen ist und dessen Schicksal die öffentliche und veröffentlichte Meinung offenbar kaum berührt. Unser Journalismus zeigt damit sehr deutlich, zu welchen Werten er sich bekennt.

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