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9. November 2012 / 18:45 Uhr

Sezessionisten im Aufwind: Der Traum vom eigenen Staat

Ob in Schottland, Flandern, Katalonien oder dem Baskenland: Europas Unabhängigkeitsbewegungen erhalten in Zeiten der Eurokrise regen Zulauf. Aber der Kampf ums liebe Geld allein ist nicht der Hauptgrund, warum Sezessionisten für ihre Ziele kämpfen. Nach vor steht der Wille zur Bewahrung der eigenen nationalen Identität, Sprache und Kultur im Vordergrund, während die Europäische Union immer zentralistischere Züge annimmt. In der aktuellen Ausgabe des Wochenmagazins Zur Zeit analysiert Bernhard Tomaschitz die erstarkenden Bewegungen.

2014 könnte sich die politische Landkarte Europas verändern. Denn im Herbst dieses Jahres, in dem sich die Schlacht von Bannockborn, bei der die Schotten den Engländern eine Niederlage zufügten, zum 700. Mal jährt, sollen die Schotten über die Unabhängigkeit von Großbritannien abstimmen, und eine Eigenstaatlichkeit des nördlichen Teil des Vereinigten Königreiches bliebe nicht ohne Folgen für weitere Staaten. In Belgien vertieft sich der Graben zwischen Flamen und Wallonen zusehends, und auf der Iberischen Halbinsel werden Rufe die von Basken und Katalanen nach einer Loslösung von Spanien immer lauter. Wie es aussieht, ist also die Staatenbildung in Europa noch lange nicht abgeschlossen.

Volksabstimmung in Schottland

Als sich Mitte Oktober der britische Premierminister David Cameron und der schottische Ministerpräsident Alex Salmond auf die Abhaltung der Volksabstimmung geeinigt hatten, war eine wichtige Hürde genommen. „Wir werden gewinnen, indem wir eine positive Zukunftsvision malen“, erklärte Salmond, der auch Vorsitzender der 1934 gegründeten Schottischen Nationalpartei (SNS) ist. Zudem sei ein vom Vereinten Königreich unabhängiges Schottland „jetzt nicht mehr aufzuhalten“. Mit der Unabhängigkeit könne Schottland laut SNS zu einem „aufstrebenden und dynamischen Land“ gemacht werden, über die Erdölvorkommen vor seiner Küste verfügen, die vergleichsweise hohen Sozialstandards behalten und mit dem Rest Großbritanniens eine „Partnerschaft unter gleichen“ bilden. Das bedeutet, dass Schottland seine Bande zu Großbritannien nicht völlig durchtrennen will. Das Pfund könnte als Währung beibehalten werden, die Queen Staatsoberhaupt bleiben und für die Verteidigung London auch weiterhin zuständig sein.

Auch wenn heute mehr als ungewiss ist, dass Schottland ein neuer Staat in Europa wird, zumal nach aktuellen Umfragen nur 28 Prozent der Befragten für eine Trennung von London sind, beobachtet Spanien die Entwicklung mit Argusaugen. Denn Madrid, insbesondere die regierende konservative Volkspartei (PP), will die Abspaltung des Baskenlandes und insbesondere Kataloniens unter allen Umständen verhindern. Katalonien gilt als wirtschaftlicher Motor Spaniens und überwies in den letzten 20 Jahren rund 200 Milliarden Euro an Madrid – mit der Folge, dass die Region im Nordosten Spaniens heute auf einem Schuldenberg von 42 Milliarden Euro sitzt und fast pleite ist.

Kataloniens Abspaltung bedroht Spaniens wirtschaftlich

Die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter argumentieren deshalb, dass die Eigenstaatlichkeit unweigerlich zu wirtschaftlicher Erholung führen würde. Umgekehrt fürchtet Madrid, bei einem Verlust der wohlhabenden Provinz noch stärker im Schuldensumpf zu versinken. Mehr noch, es wird auch behauptet, die Eigenständigkeit Kataloniens würde das Ende Spaniens bedeuten. So meinte kürzlich Justizminister Alberto Ruiz Gallardon, in diesem Fall könne „Spanien nicht im Euro bleiben“, um dann nachzusetzen: „Ein unabhängiges Katalonien als Hypothese trennt nicht Katalonien von Spanien ab, sondern setzt Spanien ein Ende“.

Weniger martialische Töne sind aus Belgien zu hören. In diesem 1830 geschaffenen Kunststaat wollen sich immer mehr Flamen von den ungeliebten Wallonen trennen, und bei den Kommunalwahlen Mitte Oktober siegten abermals die flämischen Sezessionisten. Allerdings nicht der Vlaams Belang, der herbe Verluste einstecken musste, sondern die „Neue Flämische Allianz“ von Bart De Wever. De Wever strebt nun nicht nur das Bürgermeisteramt in Antwerpen an, sondern auch eine lockere „Konföderation“ der beiden Landesteile, bei der die belgische Zentralregierung nicht mehr viel Macht hätte. Dem belgischen Ministerpräsidenten Elio di Rupo, einem Sozialisten aus Wallonien, richtete De Wever aus: „Ihre Hochsteuer-Regierung hat in Flandern keine Mehrheit und wird von den Flamen nicht unterstützt.“ Deshalb sei der „Punkt ohne Umkehrmöglichkeit“ gekommen, schließlich hätten sich die Flamen „für einen Wandel entschieden und werden diesen Weg auch weitergehen“. Mittlerweile wird auch im französischsprachigen Wallonien über ein mögliches Ende Belgiens nachgedacht. Weil der südliche Landesteil alleine, ohne die Transferzahlungen in Milliardenhöhe aus Flandern wirtschaftlich nicht lebensfähig wäre, wird immer wieder der Anschluss an Frankreich ins Spiel gebracht. Apropos Anschluss: Auch die deutschsprachige Gemeinschaft im Osten Belgiens muß sich Gedanken über einen Zerfall Belgiens machen. Gedacht ist aber nicht an eine Rückkehr zu Deutschland, sondern an einen Anschluss an Luxemburg.

Nicht nur Wirtschaft als Treiber

Europas Sezessions- und Unabhängigkeitsbewegungen, die zuletzt großen Zulauf erhalten haben, sorgen für gewaltiges Rauschen im Blätterwald, und das sogar in den Vereinigten Staaten. So schrieb etwa am 8. Oktober die New York Times unter dem Titel „Europas reiche Regionen wollen raus“, dass mit dem Fortschreiten der Fiskalunion und einer zentralisierten Kontrolle der nationalen Haushalte und der Banken die Krise „Rufe nach Unabhängigkeit in reichen Regionen der Mitgliedstaaten beschleunigt hat, die verärgert sind, ihre armen Nachbarn zu finanzieren“.

Die oft zu vernehmende Diagnose „Reiche gegen Arme“ greift jedoch zu kurz. Gewiss, der Streit ums liebe Geld mag Sezessionsbewegungen zusätzlichen Auftrieb geben, ist aber nicht die Hauptursache für deren Erstarken. Im Falle Schottland wurzeln die Forderungen nach Unabhängigkeit neben der Forderung nach Kontrolle über die Erdölvorkommen vor der Küste vor allem im Willen nach Bewahrung und Ausbau schottischer Eigenheiten. Diese sind jedoch weniger in einem ethnischen oder nationalen Sinn zu verstehen, sondern in spezifisch schottischen Institutionen zu suchen, welche die Highlands vom Rest der Insel unterscheiden. So konnten die Schotten etwa ihr eigenes Rechtssystem weitgehend bewahren, und auch im Bildungs- und Gesundheitswesen bestehen teils erhebliche Unterschiede zu den übrigen Gebieten Großbritanniens. Anders verhält es sich mit den spanischen Regionen Baskenland und Katalonien. Hier steht die Bewahrung der eigenen Sprache, Kultur und nationalen Identität sowie die Wiedererlangung historischer Freiheiten im Vordergrund.

EU hält sich zurück

Als paradox erscheint, dass Schotten, Flamen und Katalanen einerseits nach Unabhängigkeit streben, aber andererseits im Falle ihrer Eigenstaatlichkeit der Europäischen Union beitreten wollen. Die neu errungene Freiheit soll also möglichst rasch durch den Beitritt zu einer riesigen Transfer- und Schuldenunion auf dem Brüsseler Altar geopfert werden. Und auffallend ist, dass sich die Europäische Union in Bezug auf die Sezessionsbewegungen in vornehmes Schweigen hüllt – offenbar deshalb, weil sie dabei am falschen Fuß erwischt wird. Schließlich kann und will es Brüssel nicht verstehen, dass es in der EU, in der nationale Unterschiede verwischt und abgebaut werden sollen, es Völker gibt, die ihr Schicksal – zumindest vorläufig bis zu einem Beitritt – selbst in die Hand nehmen wollen.

Vor allem aber eines zeigen die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland, Flandern, Katalonien und dem Baskenland: Die Staatenbildung in Europa ist noch nicht abgeschlossen, die Europäische Union und immer weniger spürbare nationale Grenzen sind kein Ersatz für die Unabhängigkeit.

Eine ausführlichere Analyse der Sezessionsbestrebungen in Europa findet sich in der aktuellen Ausgabe der Zur Zeit. Außerdem lesen Sie:

  • Der Atterseekreis wurde wiederbelebt
  • Die Ukraine blickt nach Osten
  • Ein guter Kamerad – Vor 150 Jahren starb Ludwig Uhland
  • Der Traum vom eigenen Bier

Die vorige Ausgabe der Zur Zeit ist hier als E-Paper zu finden.

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