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In den verbliebenen christlichen Klösern (hier Mor Gabriel) und Kirchen in der Türkei müssen die wenigen Christen durch Stacheldraht geschützt werden.

20. Jänner 2015 / 10:43 Uhr

Türkei erlaubt den Bau einer Kirche – Leider nicht wahr!

Am 3. Jänner 2015 ging eine Nachricht um die Welt: Die Türkei erlaubt den Bau einer Kirche auf ihrem Staatsgebiet. „Wow, wie großzügig! Gleich eine ganze?“, war man versucht, voller Freude zu fragen. Mittlerweile stellte sich heraus, dass es selbst dieses Propaganda-Ballönchen wie eine Seifenblase kurz nach Steigenlassen zerrissen hat.

Im Jahre 1071 fand in Manzikert, dem heutigen Malazgirt nördlich des Vansees, eine Schlacht statt. Die türkischen Seldschuken siegten über die Byzantiner und leiteten die Eroberung Anatoliens ein, das bis dahin ein christliches Land war. In Anatolien gibt es bis heute urchristliche Gedenkstätten wie das angebliche letzte Wohnhaus sowie Grab Mariens und den legendenhaften Geburtsort Abrahams (nach dem Judentum, Christentum und Islam „abrahamitische Religionen“ genannt werden).

Heiliger Nikolaus wird als Türke verkauft

Auch unser „Nikolo“ lebte ums Jahr 300 (ungefähr 800 Jahre vor der seldschukischen Invasion) als christlicher Bischof an der anatolischen Südküste – weshalb er uns immer öfter als „Türke“ verkauft wird (derselbe Schwachsinn als wäre der 180 n. Chr. Wahrscheinlich in Vindobona/Wien verstorbene römische Kaiser Marc Aurel ein „Österreicher“ gewesen).

Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war Anatolien mit seinen ca. 10 Millionen Menschen ethnisch und religiös derselbe Fleckerlteppich wie das gesamte Osmanische Reich. Die Hauptstadt hieß offiziell Kostantiniyye, womit man dem alten Konstantinopel näher war als dem heutigen Istanbul. Es gab große griechische und armenische Gebiete und das zentrale Stadtviertel Pera (heute Beyoglu) rund um den von Genuesern gebauten Galata-Turm war ein buntgemischt europäisches. Die Christen mussten zwar Kopfsteuer zahlen und hatten nicht Zugang zu allen Ämtern, blieben aber ansonsten weitgehend unbehelligt. 1914/15 wurden ca. 1,5 Millionen Armenier ermordet und 1921/22 ca. 2 Millionen Griechen vertrieben. Zum letzten Massenexodus kam es infolge von Pogromen in Istanbul 1955.

Nur noch 0,2 Prozent Christen in der Türkei

Heute macht die restchristliche Bevölkerung in der Türkei 0,2 % aus. Die letzten christlichen Mehrheitsgebiete der Türkei sind bezeichnender Weise geographisch gut sichtbare Rückzugsreviere wie die kleinen Prinzeninseln im Marmarameer vor Istanbul und das polnische Dorf Polonezköy in einem Grüngürtel der asiatischen Stadthälfte.

Türkische Gesprächspartner (egal ob Erdogan-Islamisten oder Kemalisten) betonen zumeist, dass es „viele, viele Kirchen“ im Land gäbe. Sie verweisen auf die Kirche auf der Insel im Vansee (in der lediglich Fresken restauriert wurden), auf das Kloster Mor Gabriel (dessen Gärten und Felder permanent von Enteignung bedroht sind) und auf die Stadt Midyat an der syrischen Grenze, wo es noch heute mehr Kirchen als Moscheen gibt (Foto).

Gläubige leben hinter Stacheldraht

Besucht man allerdings deren Gemeinden, stellt man fest, dass es nur mehr vereinzelte, zumeist ältere Gläubige sind, die hinter Stacheldraht leben. Lässt sich ein Geistlicher aus dem Ausland unterstützend bei ihnen nieder, läuft er als „Missionar“ Gefahr, mittels mehrerer Messerstiche massakriert zu werden (einige Male 2005 – 2007 geschehen). Wer das kritisiert, riskiert, auf offener Straße erschossen zu werden (wie der armenische Journalist Hrant Dink 2007 in Istanbul).

Vergleicht man die Zahl der „vielen, vielen Kirchen“ in der heutigen Türkei mit der vorseldschukischen bzw. vorosmanischen Zeit ist fast nichts mehr da. Zigtausende christliche Sakralgebäude wurden entweder dem Erdboden gleichgemacht oder zu Moscheen, Ställen, Lagerräumen, Wirtshäusern etc. Diese nunmehr tausendjährige Entwicklung der Kirchenvernichtung kann man heutzutage im seit 1974 türkisch besetzten Nordzypern ganz praktisch und anschaulich nachvollziehen.

Hagia Sophia soll zur Moschee werden

Zur gleichen Zeit schießen überall neue Moscheen aus dem Boden, auch in alevitischen Dörfern, die sich heftig dagegen wehren (die Aleviten beten in Cem-Häusern ohne Minarett und Muezzin). Sogar die Hagia Sophia wird wieder Thema. Die einst größte Kirche der Welt, deren Kuppelkonstruktion noch heute Architekten und Statikern Rätsel aufgibt, war nach dem Fall Konstantinopels 1453 in eine Moschee umgewandelt worden. Kemal Atatürk widmete sie als Versöhnungsgeste gegenüber dem griechischen Nachbarn 1932 in ein Museum um. Nun soll sie wieder Moschee werden.

Umso überraschender war die Ankündigung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, die türkische Regierung erlaube der syrisch-orthodoxen Gemeinde auf städtischem Boden im Istanbuler Stadtteil Yeşilköy am europäischen Ufer des Marmarameeres den Bau einer neuen Kirche. Die Politologin Susanne Güsten recherchierte, was von dieser Nachricht aus Ankara nichts mehr übrigließ:

  1. Die Meldung ist schon drei Jahre alt. Aufgrund behördlicher Einsprüche ist die Kirche nie über das Planungsstadium hinausgekommen.
  2. Das Grundstück ist ein katholischer Friedhof, der der Kirche 1950 vom Staat geraubt wurde. Das „Entspannungssignal“ gegenüber der christlichen Minderheit ist in Wirklichkeit eine Verhöhnung.
  3. Die liberale Zeitung „Taraf“ berichtete, dass Davutoglu nur erklärt habe, er wolle sich „darum kümmern“. – Diese Berichtigung las man natürlich nirgendwo im Westen…

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