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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt die Freiheit der Meinungsäußerung über die Verantwortung der Portal-Betreiber.

4. Feber 2016 / 12:00 Uhr

Folgenschweres EGMR-Urteil: Internet-Medien haften nicht für Kommentare Dritter

Die Diskussionen um die Verantwortung von Internet-Portalen für die Kommentare von Lesern sind so alt wie das Internet selbst. Nun gibt es erstmals ein verbindliches Urteil des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte), das die Freiheit der Meinungsäußerung über die Verantwortung der Portal-Betreiber stellt.

Der Stein des Anstoßes ging von Ungarn aus. Die Budapester Selbstverwaltungseinrichtung ungarischer Internet-Content-Provider, kurz MTE, sowie das in Ungarn stark verbreitete Nachrichtenportal Index berichteten im Februar 2010 über zweifelhafte Geschäftspraktiken der Immobilienagentur Experient. Diese bot potentiellen Kunden an, sie könnten 30 Tage lang kostenfrei auf ihrer Internetseite werben. Nach den 30 Tagen ging der Werbeauftrag aber plötzlich in eine entgeltliche Einschaltung über, auch das Entfernen der teils schon wieder unaktuellen Werbebotschaften kostete ebenfalls. Entsprechende Internet-Fallen sind auch in Österreich nicht unbekannt, etwa auf Partnersuch-Seiten.

Ärger über unseriöse Geschäftspraktiken

Sowohl MTE als auch auf Index boten Lesern die Möglichkeit an, dazu Kommentare abzugeben, die nicht immer ganz sachlich ausfielen. Teils meldeten sich direkt Betroffene, die sich schon seit Jahren mit der Immobilien-Gesellschaft herumschlagen mussten und ihrem Ärger mit vulgären Kraftausdrücken Luft machten.

Was folgte, war eine mehrjährige juristische Schlacht: Zunächst klagte die Immobilien-Gesellschaft aus Ruf- und Geschäftsschädigung, was wiederum eine Gegenklage durch MTE und Index auslöste, die auf das Recht auf freie Meinungsäußerung pochten. In den folgenden Verfahren vor dem Berufungsgericht, dem Oberlandesgericht, dem Oberstgericht (Kúria) und schließlich vor dem Verfassungsgericht ging es aber auch darum, ob Leserkommentare auf Internet-Portalen mit Leserbriefen in Printmedien gleichzusetzen sind und inwieweit die Betreiber für die Entfernung beleidigender Inhalte verantwortlich seien.

Jahrelanger Rechtsstreit durch alle Instanzen

Letztendlich entschied das Verfassungsgericht gegen die Intentionen der Internet-Portale, die mittlerweile auch hohe finanzielle Kosten zu tragen hatten, und erklärte sie für voll verantwortlich bezüglich aller auf ihren Portalen geäußerten Meinungen.

Die Portal-Betreiber zogen daraufhin vor den EGMR. Ihr Hauptargument: Sie bestritten die Urteile der ungarischen Gerichte, nach denen die Kommentare anderer das Recht auf guten Ruf verletzt hatte. Diese Kommentare waren in einer öffentlichen Debatte über eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse erschienen, die sich um unethisches Verhalten eines Service-Providers drehte, deren Aussagen man möglichst wenig beeinflussen möchte. Auf jeden Fall könnten die Kommentare nicht mit bearbeiteten Leserbriefen gleichgesetzt werden.

Freiheit der Meinungsäußerung geht vor

Der EGMR gab den Beschwerdeführern recht und argumentierte in seiner Conclusio: Die Freiheit der Meinungsäußerung ist eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für jede Selbstverwirklichung des Individuums. Dabei geht es nicht nur um "Information" oder "Ideen", die positiv aufgenommen oder als harmlos oder als gleichgültig betrachtet werden, sondern auch um Aussagen, die schockieren, beunruhigen oder beleidigen. Das sind die Forderungen des Pluralismus, der Toleranz und Offenheit, ohne die es keine "demokratische Gesellschaft" gibt.

Was dieses Urteil für Österreich bedeutet, wird sich im Detail noch zeigen – die Folgen dürften jedenfalls weitreichend sein und unabhängigen Internet-Medien wie unzensuriert.at den Rücken stärken.

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