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Die Bürgermeisterin von Diyarbakir (Bild), Gültan Kişanak, hat für Erdogan mehrere Fehler: Frau, Kurdin, Alevitin

28. Oktober 2016 / 13:00 Uhr

Diktatorisierung und Islamisierung des EU-Beitrittslandes Türkei geht weiter – Bürgermeisterin einer Millionenstadt verhaftet

Gültan Kişanak hat zwei schwere Fehler, jedenfalls für den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Erstens ist sie eine Frau, was bei der derzeitigen Islamisierung der Türkei sowieso ein Makel ist und zweitens gehört sie dem kurdischen Volk an.

Niedergeschlagener Putsch als Vorwand für Verhaftungen

Allerdings hat Erdogan derzeit eine Trumpfkarte in der Hand, die es ihm ermöglicht, auf relativ unproblematische Weise missliebige politische Gegner hinter Schloss und Riegel zu bringen, nämlich den sogenannten Putsch, bei dem einige Militärs in dilettantischer Weise versucht haben sollen, den Ministerpräsidenten zu stürzen. Seitdem werden reihenweise Personen (es werden bald 35.000 sein) verhaftet, denen (mehr oder weniger) eine Beteiligung an diesem Putschversuch vorgeworfen wird.

Gleichgeschlechtlichkeit in Führungspositionen bei Kurden

Nun traf es eben Gültan Kişanak, Co-Bürgermeisterin der 1,6 Millionen Einwohner zählenden Stadt Diyarbakir (kurdisch: Amed; armenisch: Dikranagerd). Diese Stadt wird mehrheitlich von Kurden, aber auch von Zaza, einer weiteren in der Türkei nicht anerkannten Minderheitengruppe bewohnt. (Die Armenier wurden beim Genozid 1915/16 entfernt.) Sie wurde am Dienstag (türkische Medien sprechen von „Terrorvorwürfen“) festgenommen. Nun wird die Stadt von sogenannten staatlichen Treuhändern des türkischen Innenministeriums verwaltet. (Solche Zwangsabsetzungen von Bürgermeistern gab es bislang mehrere, nur ist Diyarbakir die bisher größte Stadt der Türkei, die von so einer Maßnahme betroffen ist.) Mit ihr wurde auch der zweite Co-Bürgermeister Firat Anli verhaftet. Wie in allen 97 HDP-regierten Städten und Gemeinden teilen sich jeweils ein Mann und eine Frau im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit die Führungspositionen.

Die 55-jährige Gültan Kişanak war schon seit längerem im Visier der türkischen Zentralbehörden, denn sie war Co-Vorsitzende der BDP, einer Partei, die die Interessen der kurdischen Minderheit in der Türkei vertrat. Mittlerweile ist die BDP in die HDP (Demokratische Partei der Völker) integriert, wodurch die kurdischen Vertretungen die Möglichkeit hatten, bei den türkischen Parlamentswahlen die 10%-Hürde zu überspringen.

In Hundehütte gesperrt, weil sie sich als Kurdin bezeichnet hat

Jedenfalls ist es nicht das erste Mal, dass Gültan Kişanak Erfahrung mit Gefängniszellen machen muss. Bereits 1980 wurde sie nach dem damaligen Militärputsch verhaftet und für zwei Jahre im Militärgefängnis von Diyarbakir eingesperrt. Bekannt ist auch eine Episode aus dieser Gefängniszeit. Gültan Kişanak wurde für sechs Monate in eine Hundehütte gesperrt, weil sie sich geweigert hatte, sich als Türkin zu bezeichnen, denn sie wäre ja Kurdin.

Falsche Religion

Zu allem Übel, im Sinne Erdogans, bekennt sich Gültan Kişanak zur Konfession der Aleviten, die sowohl Verschleierung der Frau als auch die wörtliche Auslegung des Korans ablehnen. Die Aleviten werden in der Türkei nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt.

Islamische Türkei als EU-Partner

Jedenfalls passt die Verhaftung der kurdischen Politikerin genau in das Bild jenes Weges, den Erdogan seit dem Putschversuch in besonders radikaler Weise beschreitet, nämlich die Verwirklichung eines türkischen Zentralstaats auf streng islamischer Grundlage. Dass dieses Land sowohl Beitrittswerber zur EU als auch treuer Vertragspartner der EU (Türkei-Flüchtlingsdeal ist) ist, scheint die Verantwortlichen in Brüssel (Juncker, Schulz) gar nicht zu stören (siehe auch: baldige Visafreiheit für Türken in der EU).

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