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Die Trauer der “offiziellen Türkei” über den Tod der “unislamisch feiernden” Anschlagsopfer im Nachtklub “Reina” hält sich in Grenzen.

2. Jänner 2017 / 17:11 Uhr

Terroropfer bei “unislamischen Feiern” irrelevant für türkische Regierung

Die Stellungnahmen türkischer Politiker zum jüngsten Anschlag in Istanbul sind von ganz anderer Tonart als bei den zahreichen Anschlägen davor. Nachdem die „regierungsfreundliche Propaganda“ bereits im Vorfeld des Anschlages auf den „westlichen“ Club „Reina“ davor gewarnt hatte, in der Silvesternacht an „unislamischen Feierlichkeiten“ teilzunehmen, zeigt man sich nun von türkischer Regierungsseite weit weniger betroffen als bei vorangegangenen Attentaten, wie auch die Welt berichtet.

Kaderschmiede Erdogans warnte vor Besuch von Silvesterfeiern

Während in der Türkei die ersten Anschlagsopfer beerdigt werden, wurden die zumeist jungen Opfer aus Israel und dem Libanon in ihre Heimat gebracht. Der Klub wurde von zahlreichen Gästen unterschiedlichster Nationalitäten gerne besucht. Auch Österreicher haben sich nach Auskunft des Auswärtigen Amtes zum Zeitpunkt des Anschlages unter den Gästen befunden, sind aber nicht unter den Opfern.

Das offizielle Parteiorgan der türkischen islamistischen Partei SAADET, Milli Gazete, titelte bereits im Vorfeld der Silvesterfeierlichkeiten provokativ: „Letzte Warnung, feiert nicht Neujahr!“ Aus den Reihen der SAADET sind zahlreiche heute einflussreiche Politiker der regierenden AKP hervorgegangen, so auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. In den vergangenen Jahren hatte die SAADET bereits öfters mit Kampagnen gegen christliche Weihnachts- und Silvesterfeiern für Aufruhr im Westen gesorgt.

Dies fügt sich in eine systematisch betriebene Stimmungsmache von Regierungsseite mit dem unmissverständlichen Hinweis, dass christlich-europäische keine türkischen Traditionen wären. Auch von Seiten der offiziellen Schulbehörden habe es Anweisungen gegeben, jegliche Silvesterfeiern zu verbieten.

Imame im In- und Ausland als Erfüllungsgehilfen Erdogans

Das AKP-Blatt Yeni Safak geht sogar so weit, über eifrige Erdogan-Jünger wie den Journalisten Yusuf Kaplan erklären zu lassen, „sich dem Silvesterwahnsinn hinzugeben, bedeute nichts anderes als in den Henker verliebt zu sein“. Man müsse im Gegenteil nach Erdogans Wunsch stärker darum bemüht sein, in Kunst, Kultur und Medien Unabhängigkeit zu erlangen. Von wem (als dem Despoten selbst) man dabei unabhängig werden könnte, bleibt allerdings unbeantwortet.

Auch über die fleißigen Freitagsprediger verbreitet Erdogan gezielt seine Botschaften in aller Herren Länder. Dabei wird von höchster Stelle, dem Präsidium für Religionsangelegenheiten, die allwöchentliche Freitagspredigt an Moscheen im In- und Ausland gesendet. Alleine in Deutschland wird damit von über 1000 Imamen Stimmung für Erdogan gemacht.

Silvesterfeiern nicht mit islamischen Werten vereinbar

In diesen Predigten heißt es von Seiten der Erdogan hörigen Imame unter anderem, „es gehöre sich nicht für einen Gläubigen, zum Ende des Jahres, sich selbst und den Zweck der Schöpfung vergessend, illegitime Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die keinen Beitrag fürs Leben leisteten und nicht mit unseren Werten zu vereinbaren seien“. Es würde darüber hinaus sehr nachdenklich stimmen, wenn in den ersten Stunden des Jahres verschwenderische Silvesterfeiern begangen würden, die einer anderen Kultur entstammten.

Warnhinweise vor dem Anschlag gezielt ignoriert

Während der oder die Täter, manche Augenzeugen berichteten von zwei Attentätern, noch immer nicht gefasst sind, gab es bereits im Vorfeld des Terrorakts zahlreiche Hinweise auf mögliche Anschläge.

In den sozialen Medien geisterte zuletzt eine gestellte „Hinrichtung des Weihnachtsmannes“ herum. Auch die Warnung der Milli Gazete war ein untrüglicher Hinweis auf mögliche Anschlagspläne im Zusammenhang mit christlich-westlichen Feierlichkeiten. Eine junge Finanzexpertin eines türkischen Großunternehmens meinte: „Wir hatten Angst auszugehen und blieben lieber zu Hause“.

Dass dieses Phänomen Schule machte, war am sonst zu Silvester zum Bersten überfüllten Taksim-Platz und am Bosporus-Ufer zu erkennen. Dort war die Frequenz nicht höher als an ganz normalen Tagen während des Jahres.

Enormes Polizeiaufgebot nur an „Hotspots“

Ein holländischer Passant, der seit Jahren beruflich in Istanbul tätig ist, wusste zu berichten: „Das war ein Sicherheitsaufgebot, als ob Krieg wäre.“ Die Orte von „unislamischen Feierlichkeiten“ hingegen wurden kaum geschützt. So auch der Nachtklub „Reina“, der jedoch schon seit Jahren als wahrscheinliches Anschlagsziel galt.

Kein Polizeischutz für „Reina“ trotz Terrorwarnung

Obwohl der Eigentümer des Nachtklubs vor zehn Tagen eine Warnung erhalten hatte, derzufolge der Klub angegriffen werden könnte, wurde der Polizeischutz dennoch nicht verstärkt.

Ein Polizist und ein Security-Mitarbeiter waren zugegen, als sich der (oder die) Täter den Weg ins Innere des Klublokals frei schossen. Dabei starben 39 Menschen, 60 weitere wurden teils schwer verletzt. Selbst nach mehrmaligem Nachladen und erneutem Abfeuern des AK-47 des Täters war noch keine Polizei vor Ort, um zumindest den Fluchtweg zu versperren. Der Attentäter ist bis dato noch flüchtig.

Laut dem Sicherheitsexperten Gareth Jenkins sind die viel zu laschen Sicherheitsvorkehrungen völlig unverständlich. Der Klub „Reina“ sei das am leichtesten zu verteidigende Lokal der Stadt, so Jenkins. Die Örtlichkeiten müssten zuvor ausgekundschaftet worden sein, erklärte der Sicherheitsberater.

Täter noch immer flüchtig

Seltsam mutet es auch an, dass die türkischen Behörden nicht – wie sonst meist – schon Stunden nach dem Attentat DNA-Beweise oder gar schon die Täter medienwirksam zu präsentieren wussten. Noch weiß niemand wer für das Massaker im „Reina“ verantwortlich zeichnet. Der Täter ist noch immer flüchtig und nicht untern den acht Verächtigen, die laut türkischen Behörden in Zusammenhang mit dem Angriff festgenommen wurden. Mittlerweile hat sich der Islamische Staat (IS) zu dem Anschlag bekannt.

Dennoch gibt es Indizien dafür, dass die türkische Regierung Menschen, die auf einer „westlichen“ Feier in einem Nachtklub ermordet werden, nicht auf die gleiche Stufe mit anderen (IS-)Terroropfern stellt. Üblicherweise werden Terroropfer medial als „Märtyrer“ bezeichnet, auch um für die Hinterbliebenen staatliche Unterstützung sicher zu stellen.

Die von beinahe allen Medien übernommene offizielle Sprachregelung lautete hingegen: Beim Terrorangriff auf das „Reina“ ist ein Polizist, der an der Tür Wache stand, als Märtyrer gefallen, 38 weitere Menschen kamen ums Leben.

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