Demokratisch, kritisch, polemisch und selbstverständlich parteilich

Eine Momentaufnahme unter Austro-Türken am Abend des Referendums offenbarte interessante Einblicke (Symbolfoto).

17. April 2017 / 13:25 Uhr

Unzensuriert-Reportage: So erlebten Austro-Türken das Ergebnis des Verfassungsreferendums

Am Sonntag waren in der Türkei rund 55 Millionen und in der restlichen Welt knapp 3 Millionen Menschen beim Referendum in ihrer Heimat wahlberechtigt. In Österreich waren es rund 108.000 Wahlberechtigte. Unzensuriert.at begab sich am Abend des Referendums zu einem Lokalaugenschein in einen ländlichen türkischen Freizeittreff, um das Stimmungsbild einzufangen.

Skepsis gegenüber Journalisten spürbar

Ganz anders als bei unserem Besuch im Juli des Vorjahres, am Tag nach dem Putschversuch, zeigte sich doch eine deutliche Skepsis gegenüber  Journalisten. Es scheint, als hätte die Politik des Präsidenten und nunmehrigen „Alleinherrschers“ am Bosporus auch hierzulande bereits Früchte getragen. Man ist nicht mehr uneingeschränkt offen für „unangenehme“ Fragen und versucht, manche Themen bewusst zu umschiffen. Der Name Erdogan wird in den Gesprächen scheinbar vermieden, man spricht bewusst nur von „dem Referendum“.

Erdogan kommt bewusst nicht zur Sprache

Dass der Name des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bewusst vermieden wird, hinterlässt beinahe den Eindruck, dass die Medienberichterstattung im Vorfeld des Referendums ihre Spuren hinterlassen hat. Es geht in den Gesprächen um das Referendum, das schließlich auf einer demokratischen Wahl basiere. Das türkische Volk habe das Recht sein Schicksal selbst zu bestimmen, davon ist man zutiefst überzeugt.

Schließlich werde die Umsetzung des Referendums erst 2019 schlagend, zwei Jahre lang gelte noch das bestehende System, so wird betont.

Wahlberechtigte mit Autobussen zur Wahl gebracht

Die Hochrechnungen um 20 Uhr türkischer Zeit zeigten 51,4 Prozent Ja- zu 48,6 Prozent Nein-Stimmen, zu diesem Zeitpunkt waren bereits 96 Prozent der Stimmen ausgezählt. Unter den Anwesenden (ausschließlich Männer) herrscht, sichtlich bemüht, verhaltene Ruhe. An vielen Tischen im Lokal wurde gespielt, dennoch versuchten sich einige an der Beantwortung unserer Fragen zu beteiligen. Es hatte den Anschein, als gehörten diese Personen dem „gemäßigteren“ Flügel an.

Freudig wurde von eigens organisierten Bussen aus der ländlichen Region berichtet, um die „Wahlwilligen“ zu den Urnen im Wiener Konsulat zu bringen. Ein älterer Mann war unter denen, die diesen Service in Anspruch genommen hatten. Bereitwillig erklärte er, mit „Nein“ gestimmt zu haben. Auch einige Ehefrauen von Türken mit österreichischer Staatsbürgerschaft waren bei der „Wahlfahrt“ mit dabei.

„Wir sind alle Brüder“

Nach Darstellung der Anwesenden gebe es eine recht ausgewogene Mischung der Befürworter und Gegner des Erdogan-Referendums in ihrer Community. Unter den wenigen anwesenden jungen Türken waren auch Ali und Murat. Die beiden schienen gut miteinander zurecht zu kommen, obwohl Murat im Gegensatz zu Ali ein erklärter Gegner der Verfassungsänderung war. Warum dies so ist, wollte er uns allerdings nicht erklären.

Auch erzählte man, dass es innerhalb vieler Familien eine 50-50-Situation gäbe, dennoch würden alle gut miteinander auskommen. Schließlich seien wir ja „alle Brüder“, war der einhellige Tenor.

Türkei „demokratischer als manche europäische Staaten“

Nach Ansicht der Anwesenden würden die nun möglichen Verfassungsänderungen lediglich die „fehlerhafte“ Gesetzgebung als Resultat des Putsches vom 12.September 1980 korrigieren. Die Türkei sei ein wesentlich demokratischerer Staat als viele europäische Länder. Die Türkei müsse wieder ein großer, respektierter Staat werden. Natürlich mit Hilfe Erdogans.

„Wir dürfen ja oder nein sagen, wie auch immer wir entscheiden ist unser Recht“, waren sich alle Anwesenden einig. Europa müsse die Wahlentscheidung anerkennen. Auslandstürken hätten nach Meinung der Anwesenden mehrheitlich mit „Ja“ gestimmt, da sie die Entwicklung ihres Landes (aus der Distanz) durchwegs positiv beurteilten.

Türkei auf „sehr gutem Weg in die Zukunft“

Bessere Infrastruktur, medizinische Versorgung und auch die Waffenproduktion der Türkei boome, wusste einer der Männer stolz erfüllt zu berichten. Wären nicht die Kinder in diesem Land groß geworden und daher nicht wirklich in der türkischen Kultur verwurzelt, würden die Älteren (40- bis 60-jährigen) nicht zögern, in die Heimat zurückzukehren, erklärte man zutiefst überzeugt.

PKK-Demo in 3.000 Seelen-Gemeinde erhitzt die Gemüter

Sichtlich aufgebracht wusste man von einer angebliche PKK- Demo in der Nachbarstadt zu berichten. Dabei seien unter den zehn Demonstranten mindestens die Hälfte syrische Kurden gewesen, die als Flüchtlinge nach Österreich gekommen waren.

Man hätte eine Gegendemonstration anmelden wollen, dies sei allerdings von den Behörden untersagt worden, was hörbar auch noch drei Wochen nach dem Ereignis viel Unmut hervorrief.

Wahlen in Österreich – Tendenz zur FPÖ bei Türken

Ein großer Teil derer, die bereitwillig über ihr Wahlverhalten bei österreichischen Wahlen berichten wollten, erklärten, SPÖ-Wähler zu sein. Allerdings mit dem Hintergrund des sozialen Aspektes, den sich diese Partei einst auf ihre Fahnen geheftet hatte. In letzter Zeit jedoch gebe es auch starke Tendenzen in Richtung FPÖ.

Die hoch emotionale Erklärung für diese zunächst überraschende Aussage ließ nicht lange auf sich warten. Ausschlaggebend dafür seien die Asylanten, so die einhellige Meinung. Herr T., geschätzt Mitte vierzig, berichtet, er sei seit 1989 in Österreich. Hierher gekommen sei er damals, um Arbeit zu finden, und seither arbeitete er im Steinbruch für 1.400 Euro netto im Monat.

Türken haben kein Verständnis für Asylanten

Kein Verständnis könne er allerdings für all die Asylanten aufbringen, die nicht arbeiten und dennoch monatliche Einkünfte in beinahe der gleichen Höhe vom Staat erhalten.

Auch das Vorurteil, die FPÖ sei eine „Anti-Ausländerpartei“ wurde nicht von allen geteilt. Schließlich – woher diese Geschichte stammt, war nicht zu eruieren – habe der verstorbene Jörg Haider in „seiner“ Fabrik in Kärnten damals nur Ausländer beschäftigt. HC Strache wolle die Lebensqualität erhöhen, das wollen seine türkischen Wähler auch, erklärte Herr T. überzeugt.

Ein anderer berichtet, er sei bis letztes Jahr zu jeder Wahl gegangen und habe immer brav seine Stimme abgegeben. Angesichts der wiederholten Ungereimtheiten im Zuge der Bundespräsidentenwahl jedoch habe er das Vertrauen in die korrekte Abwicklung österreichischer Wahlen verloren. Er gehe nun nicht mehr zur Wahl.

Zufriedenheit statt erwarteter Euphorie

Die erwartete Euphorie, wie man sie von Bildern aus der Türkei kennt, war nicht zu spüren. Einerseits mag dies an unserer Anwesenheit gelegen haben. Es liegt jedoch durchaus im Bereich des Denkbaren, dass man aus der Entfernung ein wenig entspannter auf die Entwicklungen blicken kann, denn man hat ja auch die Wahl, wo man leben möchte.

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