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“We Are Millions march” in Venezuela im Mai: Bei den Auseinandersetzungen zwischen Protestierern und Regierung starben bereits 100 Menschen.

8. August 2017 / 18:36 Uhr

Venezuela im Nachwahl-Kampf: Die Anzeichen einer bevorstehenden roten Diktatur mehren sich

Nach der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung (Asamblea Nacional Constituyente) Ultimo Juli, droht Venezuela eine weitere Stufe der Eskalation. Nachdem der Wählerrat CNE das Ergebnis verkündet hatte (unzensuriert berichtete am 31. Juli 2017), sorgte ein Statement für Aufregung. Antonio Mugica, Präsident von Smartmatic, erhob den Vorwurf der Wahlmanipulation. Seinem Unternehmen oblag die technische Umsetzung der Wahl, bei der Wahlautomaten eingesetzt wurden. Mugicas Angaben zu Folge wurden etwa eine Million weniger Stimmen abgegeben, als von Regierungsseite veröffentlicht. Ein sichtlich aufgebrachter Präsident Nicolás Maduro wies die Vorwürfe energisch zurück. Dabei war er in seiner Wortwahl nicht zimperlich und nannte Mugica "ignorant".

Gastbeitrag von Michael Johnschwager

Am ersten August-Wochenende verwehrte eine Einheit der Guardia Nacional Bolivariana (GNB) Generalstaatsanwältin Luísa Ortega Díaz den Zutritt zu ihrem Dienstsitz im Ministerio Público. Ein Video zeigt, wie die Soldaten Ortega massiv bedrängen. Unerschrocken wehrt sie Handgreiflichkeiten ebenso ab, wie die gegen sie erhobenen Schutzschilde. Kurz darauf wird sie ihres Amtes enthoben. Mit Tarek William Saab als neuem Generalstaatsanwalt berief die Maduro-Administration einen Getreuen aus ihrem Dunstkreis. Saab fungierte zuvor als Defensor del Pueblo (Verteidiger des Volkes), einer staatlichen Institution zur Wahrung von Bürgerrechten.

Vorgehen gegen Korruption kostete Generalstaatsanwältin Job

Luísa Ortega, auch auf internationaler Ebene be- und geachtet, ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Über einen langen Zeitraum galt sie den Venezolanern als getreue Verfechterin der Ideen der von „Comandante“ und Ex-Präsidenten Hugo Chávez begründeten sogenannten "V. Republik". Doch gegenüber der politischen Amtsführung von dessen Nachfolger Nicolás Maduro ging die Generalstaatsanwältin mehr und mehr auf Distanz.

Sie ließ sich nicht beirren, den Korruptionsvorwürfen gegen "Odebrecht" nachzugehen. Das auf Großprojekte spezialisierte, brasilianische Konstruktionsunternehmen hat es in mehreren Ländern zu trauriger Berühmtheit gebracht. In Venezuela steht "Odebrecht" im Verdacht, eine Wahlkampagne der Sozialisten finanziert zu haben. Im Gegenzug sollen die Brasilianer den Auftrag zur Erweiterung des Metro-Netzes in Caracas erhalten haben – ohne Ausschreibung.

Schon mehr als hundert Tote bei Protesten

Im April 2017 nahmen die Massenproteste in Caracas ihren Anfang und brachten danach Menschen aller Landesteile auf die Barrikaden. Im Verlauf dieser zunehmend gewalttätig ausgetragenen Auseinandersetzungen sind bis heute mehr als 100 Menschenleben zu beklagen. Luísa Ortega hatte sich bis zuletzt der Aufgabe verschrieben, jeden ungeklärten Todesfall zu verfolgen.

Ein weiterer Zwischenfall im krisengeschüttelten Venezuela sorgte gleichfalls Anfang August weltweit für Aufmerksamkeit. In Valencia, 170 Kilometer westlich der Hauptstadt, kam es zu einem Aufstand (Sublevación) eines Bataillons, der auf der Stelle niedergeschlagen wurde. Der Anführer war bereits 2014 mit einer ähnlichen Rebellion in Erscheinung getreten. Für den neuerlichen Zwischenfall – zwei Beteiligte kamen zu Tode – wurden acht Beschuldigte ausfindig gemacht: ein Militär, zwei Söldner und fünf Zivilisten. Sie wurden auf dem Luftwege nach Caracas überstellt. Präsident Maduro bezichtigt die USA und Kolumbien, den Anschlag inszeniert zu haben.

Militärische Aufstände bisher immer zum Scheitern verurteilt

Militärische Aufstände, fern der Hauptstadt, haben in Venezuela eine lange Tradition, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Einige davon bezeichnet man nach dem geographischen Standort: der Barcelonazo 1961, der Carúpanazo 1962, der Portenazo (Puerto Cabello) ebenfalls 1962. Alle Aufstände waren zum Scheitern verurteilt. Leid und Tragik reflektiert ein Foto, aufgenommen während des Portenazo. Ein tödlich verwundeter Soldat klammert sich verzweifelt an den Geistlichen der Marinebasis von Puerto Cabello. Das Foto ging um die Welt und wurde 1963 mit dem Pulitzer-Preis prämiert.

Maduro agiert mit Zuckerbrot und Peitsche

Kurz vor dem Wahltermin der Verfassungsgebenden Versammlung wandelte die Regierung eine Haftstrafe zweier Oppositioneller um in Hausarrest: Davon betroffen ist Leopoldo López von "Voluntad Popular", einer bedeutenden Partei des Oppositionsbündnis MUD sowie der ehemalige Bürgermeister von Caracas, Antonio Ledezma. Viele Venezolaner reagierten erleichtert auf die Maßnahme. Doch diese fatale erste August-Woche kennzeichnet noch ein weiterer Coup des Regimes. López und Ledesma wurden erneut in Haft genommen. Die Begründung für den unerwarteten Schritt: Verstoß gegen die Vereinbarung, sich politischer Einflussnahme zu enthalten.

Derweil dreht sich das Personalkarussell immer rasanter. Mit Delcy Eloina Rodríguez berief Venezuelas Präsident seine ehemalige Außenministerin an die Spitze der Asamblea Nacional Constituyente. Der jüngst entstandenen parlamentarischen Alternative gehören 545 Mitglieder an.

Michael Johnschwager, 1949 in Hamburg geboren, war als Außenhandelskaufmann von 1980 bis 1990 in Kolumbien, Venezuela und Honduras privatwirtschaftlich, sowie in Entwicklungsprojekten in Costa Rica in beratender Funktion im Einsatz. Seit 2004 ist Johnschwager als fremdsprachlicher Dozent und Autor mit Schwerpunkt Lateinamerika freiberuflich tätig.

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