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12. November 2011 / 11:40 Uhr

Anschläge auf die Pressefreiheit und die Reaktionen darauf

BildIn einem Artikel in der französischen Wochenzeitung Minute wundert sich der Journalist Thierry Normand über den Medienzauber, der seit mehreren Tagen in ganz Europa infolge des Brandanschlags auf die Redaktion der satirischen Zeitschrift Charlie Hebdo veranstaltet wird. Er meint dazu: "Cela va faire du bruit dans Landerneau", eine französische Redewendung ähnlich wie "Viel Lärm um nichts" (Landerneau ist ein kleines Nest in der Bretagne).

Minute

Minute

Die französische Wochenzeitung Minute ist
regelmäßig Ofer von Terrorakten.
Foto: http://www.minute-hebdo.fr

Die ebenfalls (manchmal) satirische und sich selbst als "politisch-inkorrekt" bezeichnende Wochenzeitung Minute, für die Thierry Normand schreibt, war nämlich seit ihrer Gründung im Jahr 1962 bereits Opfer von über einem Dutzend Anschlägen, ohne dass es deswegen viel Aufsehen in den Medien oder gar in der Politik gegeben hätte, egal ob auf rechter oder linker Seite. Dabei standen hinter diesen Anschlägen neben linken Chaoten auch so illustre Organisationen wie die französischen Geheimdienste…

In der Folge die Übersetzung des kompletten Artikels, erschienen in der jüngsten Ausgabe von Minute vom 9. November 2011:

Minute, die am meisten gesprengte Zeitschrift in Frankreich

Die Brandstiftung in den Redaktionsräumen unserer Kollegen von Charlie Hebdo am Vorabend der Veröffentlichung einer Nummer mit dem beziehungsreichen Wortspiel "Charia Hebdo" (also "Scharia-Wochenausgabe") im Titel löste einen Sturm von Reaktionen aus. Politiker und Journalisten übertrafen sich gegenseitig dabei, mit tränenerstickter Stimme ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Medienwirksam zur Schau gestellte Empörung ist hingegen ein sehr variables Gut – was wir bei "Minute" aus eigener Erfahrung bezeugen können, denn als es uns – mehr als einmal – traf, nahm das Publikum davon kaum Notiz.

"Eine Schweinerei" war es laut der Kommunistischen Partei. "Widerlich" war es für Jean-Luc Mélenchon, den Vorsitzenden der Linkspartei. "Zutiefst schockiert" zeigte sich Arbeitsminister Xavier. "Totale Solidarität" gab es von Martine Aubry von der Sozialistischen Partei. "Angewidert" zeigte sich Bertrand Delanoë, der Bürgermeister von Paris. Spontane Solidarität zeigten auch die Journalisten von der Libération, die den Kollegen von Charlie Hebdo ihre eigenen Redaktionsräume als zwischenzeitlichen Ersatz anboten. Fernsehberichte, die den abscheulichen Angriff verurteilten, gab es Legion. Auch Innenminister Claude Guéant begab sich selbstverständlich an den Ort der Brandstiftung, um zum Ausdruck zu bringen, dass "alle Franzosen sich mit Charlie Hebdo solidarisch fühlen". In Summe also: Ströme von Krokodilstränen.

Diese Blütenlese von Reaktionen ist überaus lehrreich. Kaum hatte man von der Brandstiftung vernommen, kamen auch schon die einschlägigen Warnungen: "Man darf keine verallgemeinernde Schlüsse ziehen." Wenn es schon so aussieht, dass die Urheber des Brandes aus der muslimischen Gemeinde stammen, so sei es keineswegs zulässig, den Islam zu stigmatisieren. Ein paar Extremisten stehen ja nicht für nicht eine ganze Gemeinschaft, die bestrebt ist, mit uns im Frieden zu leben. Das ist schon richtig. Aber war es denn nicht so, dass nach den Untaten eines gewissen Anders Breivik plötzlich eine ganze politische Gruppe zur kollektiven Verantwortung gezogen wurde und für die Verbrechen eines Einzelgängers geradestehen sollte? Hörte man etwa einen ebenso einmütigen Aufschrei als Echo auf die jüngsten katholischen Proteste gegen das "skatologische" Theaterstück eines Castellucci [die französische Sprache kennt blütenreiche Ausdrücke, im Deutschen würden wir es schlicht als Fäkal-"Kunst" bezeichnen], wo es so schön heißt: "
Ob gläubiger Christ oder fundamentalistischer Moslem, ein und dieselbe Brut." Ein schönes Beispiel relativistischer Betrachtungsweise! Die einen drücken ihre Unzufriedenheit aus, indem sie zu Gebet und Rosenkranz greifen, die anderen werfen schon mal mit Molotow-Cocktails und legen Feuersbrünste.

In unserer Redaktion herrscht öfters "Bombenstimmung"

Die besagten Schreie der Entrüstung nehmen wir bei Minute schon deshalb nicht so ernst, weil wir die einschlägigen Reaktionen aus unserer eigenen Geschichte bestens kennen … Anschläge, Bomben und Brandlegungen, das hatten wir alles schon gehabt! Gezählte fünfzehn sind es, die unser Magazin seit seiner Gründung im Jahr 1962 miterleben durfte. Fünfzehn Terrorakte, neben denen sich die Brandlegung in der Redaktion von Charlie Hebdo wie ein Rohrkrepierer ausnimmt, die aber unter der Trauergemeinde, die sich jetzt so lautstark vernehmen lässt, seinerzeit nur sehr bemessenes Mitgefühl ausgelöst hatten. Es kommt also wohl darauf an, ob man als Opfer solchen Terrors mächtige Freunde besitzt…

Erinnern wir uns:
2. Dezember 1963. Das Magazin Minute existierte damals seit etwas mehr als einem Jahr. Eine kriminelle Brandstiftung verwüstete damals seine Redaktionsräumlichkeiten. Es dauerte 17 Jahre, bis man erfuhr, wer hinter dieser Operation stand: es waren die französischen Geheimdienste. Das "Motiv": Minute war in den Besitz von Dokumenten gelangt, die sich auf bestimmte Geheimnisse der Landesverteidigung bezogen.

30. Juni 1968. Eine gewaltige Bombe explodierte in der Wohnung des Mitbegründers von Minute, Jean-François Devay. Die Täter blieben unentdeckt, doch die Gewalt nahm bald an Intensität noch weiter zu.

14. Mai 1971. Neuerlicher Anschlag gegen die neuen Redaktionsräumlichkeiten von Minute in der Pariser Rue Marceau. Ein Kommando legt eine Bombe unter die Zuleitung zu den Brennstofftanks und warf zwei Molotow-Cocktails gegen die Eingangstür der Zeitung. Für das Attentat übernahm eine linksgerichtete Gruppe namens "Nouvelle résistance populaire" die Verantwortung und Le Nouvel Observateur stellte ihnen danach seine Druckspalten zur Verfügung, um diese Heldentat zu rechtfertigen.

15. Juni 1972. Ein algerischer Müllsammler namens Saïd Mekki nimmt auf seiner Tour ein beim Müllcontainer am Eingang des Einfamilienhauses von François Brigneau, einem Kolumnisten der Minute, abgestelltes Paket auf. Es handelte sich um eine Bombe, die bei Berührung explodierte. Dem unglücklichen Mann wird eine Hand abgerissen und die andere zerquetscht. Eine Wunde am Auge muss speziell nachbehandelt werden, doch er bleibt blind. Der damalige Pariser Bürgermeister Jean-Pierre Fourcade, der später unter Giscard d'Estaing Finanzminister werden sollte, fand es nicht einmal der Mühe wert, mit dem Opfer oder mit François Brigneau Kontakt aufzunehmen.

30. August 1974. Ein vor der Redaktion abgestellter Renault 4 explodierte um 2.00 Uhr in der Früh. Für das Attentat übernehmen palästinensische Terroristen die Verantwortung. Sechs Monate später explodierte eine weitere Bombe. Die eingeleitete Fahndung führte zu dem international gesuchten Terroristen Carlos – der absurderweise nach seiner Verhaftung, als er im französischen Gefängnis "de la Santé" einsaß, viele Jahre lang ein auf seinen eigenen Namen lautendes Abonnement der Minute bezog.

19. August 1982 und 13. April 1985. Terroristen der linksextremen Action Directe lassen zweimal hintereinander Sprengkörper in den Redaktionsräumlichkeiten der Minute detonieren. Fünf Kilogramm Sprengstoff allein beim zweiten Attentat! Die Sprengkraft hätte an sich ausgereicht, um das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen. Die einzige positive Überraschung nach dem Attentat: Es gab erstmals Unterstützungserklärungen von Politikern wie François Léotard, Jacques Toubon und von Jacques Chirac, der uns folgende Zeilen schrieb: "Der Tod meines Vaters erlaubte es mir nicht, mich nach diesem abscheulichen Anschlag auf Ihr Journal persönlich bei Ihnen einzufinden. Ich möchte Ihnen aber meine Empörung und mein aufrichtiges Bekenntnis zur Presse- und Meinungsfreiheit zum Ausdruck bringen. Mit herzlichen Grüßen…". Sogar der sozialistische Innenminister Pierre Joxe ließ es sich nicht nehmen, den Platz des Geschehens zu besuchen, besaß aber nicht die Höflichkeit, dem Herausgeber des Journals, der inmitten von Trümmern stand, die Hand zu reichen.

Nach all dem Erlebten können wir heute nur müde lächeln, wenn wir sehen, wie die "satirischen Nachwuchskräfte" von Charlie Hebdo sich in Radio- und TV-Shows ihre Wunden lecken – immer noch überrascht darüber, dass jemand für ihre Kunst kein Verständnis aufbringen wollte. Es war ja auch erst das erste Mal…

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