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18. Dezember 2011 / 11:35 Uhr

Die Israel-Türkei-Krise und ihre regionalen Auswirkungen

Aymeric ChaupradeDie Türkei war, im Gegengeschäft für die in Aussicht gestellte NATO-Mitgliedschaft (der effektive Eintritt erfolgte im Jahre 1952), bereit, im Jahre 1949 als erstes muslimisches Land den Staat Israel anzuerkennen. Auch während des gesamten Kalten Krieges blieb die Türkei eine militärische Festung des US-Systems in Eurasien. Anfang der neunziger Jahre teilte ihr die amerikanische Geopolitik sogar eine noch wichtigere Rolle zu: die der Tutelarmacht im "Greater Middle East" unter US-Oberhoheit, wobei der Türkei weiterhin die Aufgabe zufiel, Israel gegen den arabischen Nationalismus zu unterstützen, die Bildung einer unabhängigen europäischen Macht durch ihre eigenen Beitrittsbestrebungen zur Europäischen Union zu unterbinden, den Einfluss Russlands in der Kaukasus-Region und im türkischsprachigen Zentralasien zu unterwandern, die separatistische Bewegung der Uiguren in Chinesisch-Turkestan zu unterstützen und schließlich Washington dabei zu helfen, die Verbindungslinien für die Öl- und Gaslieferungen aus dem Gebiet des Kaspischen Meeres und aus Zentralasien gegenüber Moskau unter Kontrolle zu halten.

Aymeric Chauprade

Aymeric Chauprade

Der französische Geopolitiker Aymeric Chauprade
Foto: http://blog.realpolitik.tv 

Übersetzung des Artikels „La crise Israël-Turquie et les conséquences régionales“ von Dr. Aymeric Chauprade, erschienen in der Nr. 233 der Zeitschrift "Marines et océans", Dezember 2011

Indes traten bereits Mitte der neunziger Jahre die ersten Anzeichen dafür zutage, dass eine islamistische Türkei sich nicht mit der Rolle eines geopolitischen Alliierten der Vereinigten Staaten zufriedengeben würde. Necmetin Erbakan und seine Refah-Partei führte innenpolitisch einen radikalen Bruch mit dem Kemalismus durch, während sie nach außen eine dem Westen gegenüber feindliche Haltung einnahm ("Wir sind nicht westlich, wir sind keine Europäer") und den "freimaurerisch gelenkten christlichen Klub", wie sie die Europäische Union bezeichnete, ablehnte.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist Ahmet Davutoglu, der brillante Außenminister Erdogans, der typische Vertreter dieses neuen außenpolitischen Ansatzes der Türkei, der auf dem Konzept eines "Zusammenstoßes der Kulturen" basiert. Davutoglu will die alte osmanische Pracht und Herrlichkeit wiederherzustellen, wobei er jedoch bewusst auf übertrieben nationalstaatliche Politik und auf die Wiederbelebung des alten Reichsgedankens verzichtet. Dies erfordert, wenigstens scheinbar, die Preisgabe der Beziehungen zu Israel.

Nach AKP-Wahlsieg wurden Beziehungen komplizierter

Zehn Jahre nach dem wichtigen bilateralen Verteidigungspakt zwischen Tel Aviv und Ankara werden, beginnend mit dem Jahr 2006, also dem Jahr des Wahlsieges der türkisch-islamistischen Partei AKP, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zunehmend komplizierter. Im Jahr 2006 lud die Türkei den Hamas-Führer Khaled Meshaal ein. Am 30. Januar 2009 intervenierte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Davos mit Nachdruck beim israelischen Präsidenten Shimon Peres in Sachen Gaza. Am 8. April 2010 bezeichnete eben dieser Erdogan Israel als die "größte Bedrohung für den Frieden im Nahen Osten." Am 17. Mai 2010 lehnte Israel das vom Iran, der Türkei und Brasilien unterzeichnete Atomabkommen ab. Im selben Monat kommt es zu dem militärischen Zwischenfall mit der "humanitären" Hilfsflotte für Gaza, die das Embargo brechen wollte, wobei auf türkischer Seite etliche Opfer zu beklagen waren. Am 31. Mai 2010 beordert die Türkei ihren Botschafter zurück und warnt Tel Aviv vor nicht wieder gutzumachenden Folgen in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Von nun an werden die Beziehungen zwischen den beiden ehemaligen strategischen Verbündeten immer schlechter. Israel verweigert eine Entschuldigung, um seine Soldaten keiner Strafverfolgung auszusetzen, während die Türkei auf Entschuldigung und finanzieller Entschädigung besteht.

Ende der militärischen Zusammenarbeit

Anfang September 2011 schickt die Türkei den israelischen Botschafter in der Türkei nach Hause und Erdogan erklärt drohend, er werde den türkischen Schiffen, die nach Gaza aufbrechen wollen, eine militärische Eskorte beistellen. Zugleich wird Israel vom türkischen Ministerpräsidenten seine mangelnde Vertragstreue bei der Umsetzung des Verteidigungspaktes vorgeworfen; einer Erklärung Erdogans zufolge würden sich die Israelis weigern, die zuvor den Türken verkauften unbemannten Überwachungsflugkörper (Drohnen) nach einer Wartung in Israel zurückzuerstatten. Am 6. September 2011 verkündet der türkische Ministerpräsident das Ende der militärischen Zusammenarbeit mit Israel. Israel wendet sich daraufhin an Rumänien und Griechenland, um auf deren Territorium militärische Ausbildungsprogramme durchführen zu können. Die türkische Marine wiederum erhält den Befehl, im östlichen Mittelmeer "aktiv und wachsam" zu sein.

Israel möchte seinen türkischen Verbündeten nicht verlieren, da es die Isolation im Nahen Osten fürchtet, und versucht, die Türken zu beruhigen, ohne jedoch auf deren Forderungen nach einer Entschuldigung einzugehen. Ehud Barak erklärte wiederholt, dass die Freundschaft mit den Türken aufrecht und die Krise nur vorübergehend sei. Die Türken lehnen ihrerseits immer eindringlichere Vermittlungsversuche der USA ab und erklären wiederholt ihre Unterstützung der Palästinenser und ihre Verurteilung einer nuklearen Bedrohung im Nahen Osten, die von Israel ausgehe; am 5. Oktober 2011 lässt Erdogan während eines Besuchs in Südafrika eine Suada harter Kritik gegenüber der Nuklearmacht Israel folgen. Letztlich gewährt die Türkei einem Dutzend palästinensischer Gefangener Asyl, nachdem diese von Israel im Austausch für die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit freigelassen wurden.

Türkei und Israel haben weiter gemeinsame Interessen 

Die Frage, die sich hierbei stellt, ist die folgende: Wird eine islamistische Türkei tatsächlich bereit sein, eine starke Allianz, die zur Zeit des kemalistischen Staates geschlossen wurde, scheitern zu lassen? An der Oberfläche scheint alles darauf hinzudeuten. Allerdings gibt es auch mehrere Faktoren, die dem widersprechen. Erstens hat der Handel zwischen Israel und der Türkei seit Abschluss des wichtigen Freihandelsabkommens zwischen den beiden Ländern im Jahre 1997 ständig zugenommen, im besonderen Maße – und trotz aller politischen Hemmnisse – seit Beginn des Jahres 2011. Zweitens ist die neo-osmanische geopolitische Strategie, wie sie sich im Gedankengut eines Ahmet Davutoglu widerspiegelt, mehr gegen den Einfluss des Iran, Ägyptens und Saudi-Arabiens in der arabischen Welt als gegen Israel gerichtet. Der arabische Frühling und die Umstrukturierung des arabischen Nahen Osten haben zu einem stillen, aber umso intensiveren Wettbewerb zwischen den sunnitisch-arabischen Mächten, dem iranischen Pol und dem türkischen Pol geführt. Israel und die Türkei sind nach wie vor vom gleichen Wunsch geeint, iranische Waffenlieferungen an Syrien zu unterbinden. Die Türkei wetteifert mit dem Iran, Ägypten und Saudi-Arabien um den Einfluss auf die Palästinenser in Gaza. Ankara versucht, sich als das Modell für eine "aufgeklärte islamische Regierungsform" zu etablieren, wie sie von der Moslem-Bruderschaft in vielen sunnitischen arabischen Ländern gefordert wird. Nichts hindert somit die Hypothese einer beinahe komödienhaften Absprache zwischen Israelis und Türken, hinter einer nach außen hin errichteten Fassade dennoch gemeinsame Ziele zu verfolgen, nämlich: der Bekämpfung des Einflusses des Irans und Saudi-Arabiens und die Aufrechterhaltung des ägyptischen Friedensvertrages mit Israel, indem man in Ägypten die Entstehung einer neuen Regierung fördert, die sich "soft" verhält, also auf weitreichende politische Änderungen in der Außenpolitik verzichtet. Wir sind somit wieder bei der Debatte "Kontinuität oder Bruch mit der Vergangenheit" angelangt. Aufgrund des außenpolitischen Diskurses zwischen Israel und der Türkei läge letzteres auf der Hand. Aber in der Welt der verdeckten Aktionen von Geheimdiensten und Diplomatie und der ihnen zugrundeliegenden geopolitischen Intentionen ist dies keinesfalls sicher.

Türkei gehört nicht zum europäischen Kulturbereich

Unsere Hypothese lautet, dass die neue neo-osmanischen Politik mehr Einfluss auf die Positionierung der Türken gegenüber den Europäern, der Europäische Union und der Mittelmeer-Union als gegenüber Israel haben wird. Die Mittelmeer-Union existiert de facto seit dem Ende der Regime Mubaraks und Ben Alis nicht mehr, da sie sich lediglich auf die persönlichen Beziehungen dieser beiden Präsidenten zum französischen Präsidenten stützte. Was die Europäische Union betrifft, die sich aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Niveaus ihrer Mitgliedsstaaten in erheblichen wirtschaftlichen Widersprüchen verfangen hat, so wird sie es sich einfach nicht mehr leisten können, diese auch noch durch geopolitische Widersprüche zu vermehren: Die Türkei gehört eben nicht zum europäischen Kulturbereich. Wenn die EU die gegenwärtige Wirtschaftskrise überlebt, wird sie sich wohl an kohärenteren wirtschaftlichen und geopolitischen Fundamenten neu orientieren müssen. Wir müssen aus dieser Sicht heraus die Türkei als ein wichtiges Schwellenland ansehen, das – ebenso wie Brasilien – mehr und mehr Eigenleben entfalten und versuchen wird, seine neo-osmanischen Ambitionen in Richtung der sunnitischen arabischen Welt auszuspielen, wobei ein "aufgeklärter" Islam eingebracht wird, der im Gegensatz zum Wahhabismus Saudiarabiens durchaus eine vermittelnde Rolle auch in Zentralasien und im Iran spielen könnte. Die Finesse des Spiels impliziert jedoch, dass die Türkei zumindest in sublimer Form bzw. hinter der Fassade einer islamischen und pro-palästinensischen Ideologie die israelische strategische Karte im Talon behält.

Aymeric Chauprade ist ein französischer Politikwissenschaftler (Sorbonne) und durch seine Lehrtätigkeit ausgewiesener Militärwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Geopolitik, der vor allem durch seine kritische Haltung gegenüber den NATO-Einsätzen Frankreichs und gegenüber dem US-Hegemonismus bekannt wurde. Er gilt als letzter Vertreter einer gaullistischen Tendenz in der Außenpolitik unter den französischen Verteidigungsexperten. Chauprade ist Websiite-Manager von www.realpolitik.tv und veröffentlichte zuletzt im September 2011 das Buch  „Chronique du choc des civilisations“, erschienen bei Édition Chronique: ein Atlas zur Geopolitik, der ein globales und kohärentes Bild der zeitgenössischen geopolitischen Herausforderungen bietet.

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