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27. Dezember 2011 / 09:36 Uhr

Die Türkei hat ein kurzes Gedächtnis

BildIn Frankreich soll künftig ein Gesetz dafür sorgen, dass der Völkermord der Türken an den Armeniern nicht mehr geleugnet werden darf. Diese Leugnung ist jedoch offizielle türkische Staatsdoktrin, und entsprechend aggressiv reagierte Premierminister Recep Tayyip Erdogan. Umgehend wurde der türkische Botschafter aus Paris abgezogen. Erdogan warf den Franzosen ihrerseits vor, einen Völkermord während ihrer Kolonialherrschaft in Algerien begangen zu haben. Der französische Afrika-Experte Bernard Lugan zeigt in einer kurzen historischen Darstellung die Geschichtsvergessenheit Erdogans auf, denn auch in Algerien waren es die Türken, die sogar jahrhundertelang die dort ansässigen Völker brutal unterdrückt haben. Unzensuriert.at veröffentlicht die deutsche Übersetzung von Lugans Artikel, das französische Original findet sich hier.

Bernard Lugan

Bernard Lugan

Afrika-Forscher Bernard Lugan.
Foto: Novopress

Die Aussagen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan über den "Völkermord", den Frankreich in Algerien begangen haben soll, sind Beleg sowohl für seine verbale Hysterie wie auch für eine groteske Manipulation der Geschichte. Darüber hinaus ist gerade Erdogan in sehr schwacher Position, wenn er von einem "Völkermord" in Algerien redet, handelt es sich doch um eine Region, die drei Jahrhunderte lang eine ottomanische Kolonie unter der Bezeichnung Regentschaft Algier (Wilayat al-Djezair auf Arabisch bzw. Gezayir-i Garp auf Türkisch) war und in der sich die Herrschaft der Türken und Janitscharen durch besonders brutale und rücksichtslose Methoden auszeichnete.

Die lokalen Kabylen, ein Berbervolk, erhoben sich schon frühzeitig gegen die türkische Kolonialherrschaft. Im Jahr 1520 kam es zum ersten Aufstand unter Sidi Ahmed, auch "el Kadhi" genannt, dem es sogar gelang, die Hauptstadt Algier einzunehmen und den lokalen Machthaber Chaireddin Barbarossa zum Rückzug nach Djidjelli zu zwingen; Chaireddin Barbarossa erlangte auch als Seeräuber im Mittelmeer traurige Berühmtheit und wurde später in Tunis (1535) von der spanischen Fotte Karls V und den mit ihm verbündeten Johanniterrittern aus Malta besiegt.

Ständige Aufstände gegen die osmanische Herrschaft

Im Jahre 1609 kämpften die Kabylen erneut an den Mauern von Algier, und zwischen 1758 und 1770 erhob sich das gesamte Kabylengebiet gegen die Osmanen. Im frühen neunzehnten Jahrhundert kam es erneut zu Aufständen, vor allem zwischen 1805 und 1813, danach neuerlich im Jahr 1816 und schließlich im Jahr 1823. Zu Aufständen kam es auch in den Bergen von Aurès in Ostalgerien, wo es dem Berberstamm der Chaouias gelang, jede wirksame Präsenz der osmanischen Macht zu verhindern. Nur die Stadt Constantine blieb eine Ausnahme, weil sich die Türken hier mit dem lokalen Stamm der Zemoul verbündet hatten, was die anderen Kabylenstämme jedoch nicht daran hinderte, sich laufend gegen sie zu erheben.

Chaireddin

Chaireddin

Der türkische Herrscher Chaireddin Barbarossa
musste im 16. Jahrhundert nach einem Aufstand
aus Algier fliehen und wurde später Seeräuber.
Bild: WIkimedia

Die Türken versuchten, alle Aufstände in Blut zu ertränken, genauso wie es ihre Praxis auch in Libyen war: "Einsatz der türkischen Militärmacht bedeutet: die regulären Truppen der Türken und Couloughlis (=Janitscharen) gehen mit Schwert, Flinte und Kanone vor, verbrennen die Ernten und die Dörfer und nehmen Geiseln, die sie aufspießen und enthaupten, um dann Dutzende von abgeschlagenen Köpfen zur Schau zu stellen. Die Anwendung von Gewalt soll die Entschlossenheit der Herrschenden und die Unumkehrbarkeit ihrer Herrschaft demonstrieren." (Martel, A., "Souveraineté et autorité ottomane : la Province de Tripoli du Couchant (1835-1918)")

In der Regentschaft Algier praktizierten die Türken darüber hinaus eine Politik der strikten Rassentrennung, welche es verhindern sollte, dass die herrschende Elite der osmanischen Militär-Regierung sich durch Eheschließungen in der Masse der lokalen Bevölkerung auflöst.

Brutale Übergriffe durch türkische Besatzer

Türkische Übergriffe gab es im übrigen nicht nur gegen die lokale Bevölkerung. Nur einige Beispiele:

  • Am 27. Mai 1529 kapitulierten nach dreiwöchiger Belagerung die 25 Überlebenden der spanischen Besatzung, die eine Festung in der Bucht von Algier verteidigt hatten, gegen das Versprechen, dass man ihr Leben schonen würde; dennoch wurde ihr Anführer, Graf Martin Vargas, der schwer verwundet war, von türkischen Soldaten mit Stockhieben getötet.
  • Am 20. Juli 1535 fiel der in Tunis von den Spaniern verschont gebliebene Chaireddin Barbarossa mit seiner Piratentruppe über die Balearen-Insel Menorca her, wo er mehrere hundert Gefangene machte und diese, Männer, Frauen und Kinder, danach auf dem Sklavenmarkt von Algier verkaufte.
  • Im Jahre 1682 hatte der Dey von Algier Frankreich den Krieg erklärt; als Admiral Duquesne vor Algier erschien, massakrierten die Türken den französischen Konsul Jean Le Vacher, einen Priester, indem Sie ihn vor die Mündung einer Kanone banden.
  • Auch im Jahre 1688, als Marschall d'Estrées in Algier gegen die Piraten kämpfte, wurden einige französische Gefangenen vor die Kanonen gebunden.

Piraterie als gute Einnahmequelle

Die Piraterie blieb bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert essentieller Bestandteil des politischen und wirtschaftlichen Treibens der türkischen Regentschaft in Algier. Und es war reine Piraterie und nicht etwa Prise nach regulärem Kriegsbrauch, da die Rais, die Piratenkapitäne, sich in keiner Weise an die strengen Regeln des Seerechts hielten. Die historische Forschung hat gezeigt, dass ihre Zielsetzung nicht das von der Obrigkeit autorisierte Vorgehen gegen feindliche Schiffe in Kriegszeiten war, sondern dass ihre einzige Motivation darin bestand, Beute zu machen. Mit Ausnahme des Rais Hamidou waren alle an diesen Akten der Piraterie Beteiligten nicht algerischer Herkunft, sondern entweder gebürtige Türken oder zu ihnen übergelaufene Renegaten.

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