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8. Jänner 2012 / 08:24 Uhr

Terrorzelle “NSU”: Verfassungsschutz war tief verstrickt

BfV"Ein Terrorist oder Krimineller, der zehn Jahre trotz Fahndung unbehelligt operieren kann, wird von den Behörden gedeckt": Diese Faustregel wird einem US-Geheimdienstler zugeschrieben. Es scheint als gelte sie auch für das "Terrortrio" des "NSU". Jenes Trio, das der Spiegel (46/2011) bereits großsprecherisch als "Braune Armee Fraktion" bezeichnet hatte, könnte bald auf die Größe eines Duos schrumpfen. Es zeichnet sich ab, dass eine Mordanklage gegen Beate Zschäpe mangels Beweisen nicht erhoben werden kann, der Anwalt der mutmaßlichen Unterstützerin sieht damit den Vorwurf "Bildung einer terroristischen Vereinigung" (nach §129a STGB müssen mindestens drei Personen beteiligt sein) auf wackligen Beinen stehen.

BfV

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Der deutsche Verfassungsschutz (im Bild das Bundesamt in Köln)
unterstützte die mutmaßlichen Mörder vom NSU.
Foto: www.verfassungsschutz.de

Brisante Details des Falles hatte indes das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in Thüringen einzuräumen: Es unterstützte die mutmaßlichen Mörder mit mehreren hundert Euro für "neue Pässe" und kaufte Exemplare des aufwändig hergestellten, bizarren antisemitischen Brettspiels "Pogromoly". Interne Papiere, die dem Spiegel nun vorliegen, belegen, dass das Amt die Bande mindestens bis zum Jahr 2000 beobachtete und von deren kriminellen Aktivitäten Kenntnis hatte.

Verfassungsschützer bei Mord am Tatort

Die Morde soll der "NSU" von 2000 bis 2006 verübt haben, angeblich ohne weiter auf dem Radar der Verfassungsschützer gewesen zu sein. Jedoch wirft der Tathergang des Mordes an Halit Yozgat, einem Betreiber eines Internetcafes, am 6. April 2006 in Kassel Fragen auf. Denn zur Tatzeit hielt sich am Tatort ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes auf. Er besuchte das Internetcafe Yozgats, das er kurz nach dem Mord verließ. Obwohl es Anhaltspunkte für eine tiefere Verstrickung dieses Mitarbeiters in die Mordserie geben soll, gibt es bis heute keine umfassende Erklärung von Polizei oder VS – die Ermittlungen "dauern noch an", heißt es.

Aufgrund dieser fragwürdigen Informationspolitik der LfV Thüringen und Hessen drängt sich die Frage auf, ob bislang vollumfänglich Auskunft gegeben wurde – Zweifel sind angebracht. Die "Bekenner-CD" (die in einem völlig ausgebrannten Haus unversehrt in adressierten Kuverts aufgefunden wurde) ist bislang das Schlüsselindiz für die Existenz des "NSU" als Terrorzelle und die Einordnung der "Döner-Morde" und der ihr zugeschriebenen Anschläge als im engeren Sinne terroristisch. Betrachtet man die Lebenswege der Täter Mundlos und Bönhardt fallen einem neben dem Durchlaufen neonazistischer Gruppen, etliche "ordinäre" Delikte auf: Einbruchdiebstahl, Hehlerei, Körperverletzung, die offenkundig um schwerste Straftaten erweitert worden sind – beide überfielen ab 1999 mehrere Banken. Welche Motivation sie antrieb, ob sie zwischen einem asozial-kriminellen "Aussteiger-Leben" und dem aus Fremdenhass mordender "Gesinnungstäter" wechselten, beide "Lebensentwürfe" ineinander verschwammen, oder sie völlig andere Rollen z.B. als Auftragsmörder spielten (Stichwort: "Tiefer Staat"), dürfte schwer zu klären sein. Zschäpe, die über direkte Kontakte zu den Verfassungsschützern verfügt haben soll, schweigt eisern.

Netzwerk um NSU nicht sehr tragfähig

Im Zusammenhang mit der Verstrickung des VS ist interessant, dass das "rechtsextreme Netzwerk" um den "NSU", dessen Enttarnung die Ermittler ankündigten (Spiegel 46/2011) aktuell bis auf eine Ausnahme (Ralf Wohlleben, ehem. NPD-Funktionär) aus einigen wenigen biographischen Miniaturen und sozial schwachen Randexistenzen bestanden hat. Sie konnten kaum in der Lage gewesen sein, die notwendige Logistik für eine jahrelange Unterstützung aufzubieten.

Nazi-Strukturen vom Verfassungsschutz aufgebaut

Heinz Fromm

Heinz Fromm

BfV-Chef Heinz Fromm schweigt.
Foto: www.verfassungsschutz.de

Die weit links stehende Zeitschrift KONKRET (1/2012) erhebt in Zusammenhang mit den Ermittlungen schwere Vorwürfe. Sie geht von einem massiven staatlichen Aufbau des Neonazi-Milieus in Thüringen aus. Dem neonazistischen "Thüringer Heimatschutz" (THS) sollen von 1994 bis 2000 drei Millionen Euro an Steuergeldern zugeflossen sein. Sie hätten zu einem regelrechten "Aufschwung" der Szene geführt – und zu Straftaten, die sich dann als "rechte Gewalt" in diversen Statistiken niederschlug, zum Beispiel eine Briefbombenserie, die 1997 Thüringen in Atem hielt. Fakt ist: Tino Brandt, eine THS-Schlüsselfigur, war bis zu seiner Enttarnung 2001 V-Mann und hatte engen Kontakt zu einigen Unterstützern der Zelle. Brandt konnte aufgrund jahrelanger Zuwendungen ein Leben als Vollzeit-Kader führen und zugleich Strukturen im gesamten Bundesland aufbauen. Nach nüchterner Rechtslage war der organisatorische Kopf damit nichts anderes als ein festangestellter VS-Mitarbeiter, der seine staatlichen Zuwendungen ordentlich versteuert hat. Brandt spricht von 200.000 Euro.

Der THS bildete das prägende Milieu, in dem die späteren mutmaßlichen "NSU"-Täter sozialisiert worden sind. Die Verstrickung des VS in die Taten der späteren Zwickauer "Terrorzelle" müssten angesichts von zehn Morden Anlass für eine Gesamtrevision seiner geheimdienstlichen Tätigkeit sein, sprechen sie doch dem Leitbild der "wehrhaften Demokratie" Hohn. Zu dieser kann man sich jedoch nicht durchringen. Der oberste Verfassungsschützer des Bundes, Heinz Fromm (SPD), hält sich zurzeit mit Kritik an den Landesämtern auffällig zurück, über die Verstrickung seiner Thüringer Kollegen in den Fall schweigt er sich aus. Immerhin kann Fromm mittlerweile feststellen, dass "V-Leute kein perfektes Instrument (sind), im Gegenteil, die Arbeit mit menschlichen Quellen ist stets besonders anspruchsvoll" – zynisch, aber wahr.

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