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5. April 2012 / 17:53 Uhr

Günter Grass hält Deutschland den Spiegel vor

Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hat sich mit dem Nahost-Konflikt auseinandergesetzt und dafür harsche Kritik von fast allen Seiten geerntet. Ein „irres Gedicht gegen Israel“ ist es für die Bild-Zeitung, für den FAZ-Herausgeber „ein Machwerk des Ressentiments“. Der CDU-Generalsekretär ist „über die Tonart und Ausrichtung des Gedichts entsetzt“, seine SPD-Kollegin betrachtet es als „irritierend und unangemessen“.

Günter Grass

Günter Grass

Günter Grass zog mit seiner Meinung zum Nahost-Konflikt
erbitterte Kritik und Antisemitismus-Vorwürfe auf sich.
Foto: Blaues Sofa / Wikimedia (CC BY 2.0)

Besonders empfindlich reagierten naturgemäß jüdische Einrichtungen und Repräsentanten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland nannte den Text „ein aggressives Pamphlet der Agitation“. Der israelische Gesandte Emanuel Nahshon erklärte auf der Webseite der Botschaft gar:

Was gesagt werden muss ist, dass es zur europäischen Tradition gehört, die Juden vor dem Pessach-Fest des Ritualmords anzuklagen. Früher waren es christliche Kinder, deren Blut die Juden angeblich zur Herstellung der Mazzen verwendeten, heute ist es das iranische Volk, das der jüdische Staat angeblich auslöschen will.

Die Welle der Empörung ist hauptsächlich folgender Passage in Grass‘ von der Süddeutschen zeitung veröffentlichtem Gedicht „Was gesagt werden muss“ geschuldet:

Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir – als Deutsche belastet genug –
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.

Grass verleiht der Befürchtung Ausdruck, Israel könne einen Krieg gegen den Iran eröffnen. Er kritisiert, dass „ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist“. Grass fordert allerdings auch, „daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird“.

Grass sah Antisemitismus-Vorwurf kommen

Was in der allgemeinen Aufregung kaum erwähnt wird, ist der Umstand, dass Grass in seinem Gedicht nicht nur Gefahren im Nahen Osten aufgezeigt, sondern auch seinem eigenen Volk den Spiegel vorgehalten hat, indem er schrieb:

Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er mißachtet wird;
das Verdikt 'Antisemitismus' ist geläufig.

Damit hat Grass selbst die Reaktion auf sein Gedicht minutiös genau vorausgesagt. Er hat der deutschen Politik- und Mediengesellschaft einen Spiegel vorgehalten, den diese wütend zerbrochen hat, indem sie erst recht den Schriftsteller zum Antisemiten stempelte.

SPD-Mann kritisiert Aufheulen der Gutmenschen und deutschen Schuldstolz

Grass‘ Verteidiger sind spärlich gesät. Einer findet sich überraschend in den Reihen der SPD. „Der reflexartig erhobene Vorwurf des Antisemitismus gegen jeden, der Israel kritisiert, ist intellektuell erbärmlich und politisch unredlich“, geißelt der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion in Mecklenburg-Vorpommern, Norbert Nieszery, die Grass-Gegner mit deutlichen Worten und setzt nach, er verstehe nicht, „warum es heute immer noch nicht möglich ist, Kritik an Israel zu üben, ohne dafür mit der Antisemitismuskeule verdroschen zu werden und ein entsetztes Aufheulen der vermeintlichen Gutmenschen zu provozieren“. Dieser Reflex sei „so stark im deutschen Schuldstolz verankert, dass auch Grass’ deutliches Bekenntnis zu Israel von derlei Kritikern schlicht ignoriert wird“.

Tatsächlich bekennt sich Grass in seinem Text nicht nur ausdrücklich zu Israel, sondern trägt auch den vom SPD-Politiker angesprochenen „Schuldstolz“ offen zur Schau, wenn er schreibt:

Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.

Grass beklagt Gleischschaltung der Meinung

Grass selbst gefällt sich indessen in der Märtyrerpose und beklagt die Angriffe auf seine Person: „In einer der Springer-Zeitungen [gemeint ist die Bild-zeitung, Anm.] stand, der ewige Antisemit, das ist eine Umkehrung des 'ewigen Juden'. Das ist schon verletzend und ist demokratischer Presse nicht würdig." Und im hohen Alter von 84 ereilt den Literatur-Nobelpreisträger noch eine späte Erkenntnis:

Es ist mir aufgefallen, dass in einem demokratischen Land, in dem Pressefreiheit herrscht, eine gewisse Gleichschaltung der Meinung im Vordergrund steht und eine Weigerung, auf den Inhalt, die Fragestellungen, die ich hier anführe, überhaupt einzugehen.

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