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29. Mai 2010 / 10:26 Uhr

Sozialer Sprengstoff: Die großen demographischen Konflikte

Unsere Gesellschaft wird in praktisch allen wichtigen Bereichen davon beeinflusst, doch offen gesprochen wird über Demographie selten. Migration und die Veränderung der Geburtenrate sind die entscheidenden Treiber der Veränderung, ebenfalls wichtig, aber von geringerem Einfluss ist die zunehmende Lebenserwartung. Was sich alles verändern wird, erklärt der prominente Bevölkerungswissenschafter Professor Herwig Birg von der Universität Bielefeld. Im Gespräch mit Unzensuriert.at arbeitet er vier Konfliktebenen heraus:

1.) Junge gegen Alte

Die Zahl der zu versorgenden älteren Leute wächst in Deutschland um zehn Millionen bis zur Jahrhundertmitte. Gleichzeitig schrumpft die Zahl der Mittleren, die die Versorgungsleistung erwirtschaften müssen, um 16 Millionen, und zwar auch dann, wenn man hohe Einwanderung schon unterstellt. Pro Kopf eines Erwerbstätigen entfällt dann die doppelte Versorgungslast wie am Anfang des Prozesses. Das ist die eine Thematik, die überall diskutiert wird – Stichwort: soziale Sicherungssysteme.

2.) Zuzugsgebiete gegen Entleerungsgebiete

Hinzu kommt eine Auseinanderentwicklung der Regionen. Der Sozialdarwinismus greift in Form eines Regionaldarwinismus um sich. Obwohl die Bevölkerung Deutschlands schrumpft, gibt es Regionen und Bundesländer, die weiter wachsen – auf Kosten der schrumpfenden. Das nimmt dramatische Formen an. Beispielsweise fehlt durch die innerdeutschen Wanderungen in den neuen Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt bei den jungen nachrückenden Jahrgängen ein Viertel der Menschen. Die sind in die weiterhin wachsenden Bundesländer – meistens Bayern und Baden-Württemberg – gezogen.

Das hat doppelte Konsequenzen: Neben der der Demographie entwickelt sich auch die Ökonomie auseinander. Die Abwanderung erzeugt Investitionsschwäche, damit weniger Arbeitsplätze und damit weiterhin erzwungene Abwanderung, daraus folgend noch weniger Wirtschaftsleistung und noch weniger Investitionsneigung. Es entsteht eine Abwärtsspirale, während es gleichzeitig eine Aufwärtsspirale bei den Zuzugsregionen gibt. Wo die Menschen ankommen, wächst der Markt. Das ermutigt die Investoren, das schafft mehr Arbeitsplätze und führt zu noch mehr Zuzug, das gibt als Folge davon noch größere Märkte et cetera.

Deutschland entwickelt sich auseinander in immer ärmer werdende Regionen und immer reichere. Das Wort vom Regionaldarwinismus (oder drastischer: Regionalkannibalismus) bedeutet, dass die Stärkeren rücksichtslos die Vorteile wahrnehmen auf Kosten der Schwächeren.

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3.) Eltern gegen Kinderlose

Die dritte Konsequenz ist ein Verfassungskonflikt, der dadurch entstanden ist, dass das Verfassungsgericht geurteilt hat, die Pflegeversicherung sei verfassungswidrig, weil sie von den Menschen zwei Leistungen verlangt – erstens Beiträge und zweitens die Erziehung von Beitragszahlern. Ohne Beitragszahler können keine Leistungen für die Pflegebedürftigen erbracht werden, weil im Umlageverfahren die heute eingezahlten Beiträge auch heute voll ausgegeben werden ohne Rücklagen. Künftige Personen hätten daher, wenn sie pflegebedürftig werden, überhaupt keine Versorgung, wenn nicht bis dahin neue Beitragszahler herangewachsen sind. Das Erziehen der Beitragszahler nennt das Verfassungsgericht generativen Beitrag.

Es gibt also einen monetären und einen generativen Beitrag. Wenn eine Bevölkerungsgruppe nur den monetären Beitrag leistet, weil sie keine Kinder hat, aber die gleichen Ansprüche erwirbt wie die anderen, dann ist das eine Privilegierung der Menschen ohne Kinder, die den obersten Verfassungsgrundsatz verletzt, nämlich den Gleichheitsgrundsatz. Dieses Denken ist laut Gericht auch anwendbar auf die Renten- und Krankenversicherung. Damit ist das gesamte deutsche Sozialversicherungssystem verfassungswidrig.

Das Gericht hat daher in seinem Urteil von 2001 verlangt, dass die entsprechenden Gesetze geändert werden. Die Politik hat das fast vollständig ignoriert. Dieser Verfassungskonflikt ist ebenfalls eine sehr wichtige Folge der demographischen Veränderungen, ohne dass der Konflikt von jemandem böswillig heraufbeschworen wurde.

4.) Zugewanderte gegen Nicht-Zugewanderte

Deutschland – und wohl auch Österreich – ist konfrontiert mit einer millionenfachen Einwanderung von bildungsfernen Schichten. Zur Erläuterung die Zahlen: Der Anteil der Deutschen ohne Migrationshintergrund, die keinen Schulabschluss haben, beträgt 1,4 Prozent. Das ist eine kleine, fast vernachlässigenswerte Gruppe. Aus der Türkei eingewanderte Männer hingegen sind zu 17 Prozent ohne Schulabschluss, Frauen sogar zu 26 Prozent. Aber sel,bst aus den Herkunftsländern europäischer Art – also den EU-27 als Gruppe – sind 7 Prozent der Männer und Frauen ohne Abschluss.

Auch bei den beruflichen Abschlüssen bestehen gravierende Unterschiede. Besonders fallen auch hier die Türkischstämmigen auf mit 48 Prozent bei den Männern bzw. 57 Prozent bei den Frauen ohne Berufsabschluss – im Vergleich zu 12 Prozent bei den deutschen Männern und 23 Prozent bei den Frauen.

Eine enorm wichtige Rolle spielt die sogenannte Erwerbsquote – also wie viel Prozent der Bevölkerung erwerbstätig sind. Normalerweise ist es so, dass die Eingewanderten häufiger erwerbstätig sind als die Nicht-Eingewanderten, schon allein weil sie jünger sind und kaum im Rentenalter. Aber im Falle Deutschlands und vermutlich auch im Falle Österreichs ist es umgekehrt. Die Erwerbsquote ist bei den Menschen ohne Migrationshintergrund höher als bei denen mit Migrationshintergrund. Als fast unausweichliche Konsequenz ist auch die Sozialhilfe-Quote sehr unterschiedlich. Bei den Nicht-Migranten leben 4 bis 5 Prozent von Sozialhilfe, bei den Migranten 9 Prozent (Frauen) zw. 11 Prozent (Männer) und bei den Türken 12 (Frauen) bzw. 15 Prozent (Männer).

Dafür wird gesagt: Gerade die türkischstämmige Bevölkerung leiste durch ihre hohe Selbständigenquote sehr viel Positives, weil sie Arbeitsplätze schaffe, die auch von den Deutschen besetzt werden. Das ist ein Märchen, das man jetzt mit einer neuen Statistik des Statistischen Bundesamtes widerlegen kann. Die Selbständigenquote der Türkischstämmigen ist nicht höher als die der Deutschen, sondern niedriger. In Zahlen: 10,4 Prozent der Deutschen sind selbständig und 6,6 Prozent der aus der Türkei stammenden Menschen. Und auch die Bevölkerung mit Migrationshintergrund als Ganzes – also aus allen Herkunftsländern – hat eine Selbständigenquote, die niedriger ist als die der Deutschen.

Interview mit Professor Herwig Birg

Welche Konsequenzen sich aus diesen Konflikten für den Sozialstaat ergeben und welche Maßnahmen geeignet wären, um eine Trendumkehr zu erreichen, lesen Sie im Unzensuriert-Interview mit Professor Herwig Birg:

Teil 1: "Am Arbeitsmarkt wird zu Lasten der Familien diskriminiert!"

Teil 2: "Demokratie wird durch Demographie gefährdet"

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