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FPÖ-Politiker Hubert Kinz kämpft um Pflegefälle, die von Österreich, der Schweiz und der EU im Stich gelassen werden.

27. Oktober 2020 / 19:52 Uhr

Streit um Pflegegeld ins Ausland: „Brief aus Brüssel“ empört FPÖ-Anwalt

Seit April dieses Jahres beschäftigt sich der Vorarlberger FPÖ-Politiker Rechtsanwalt Hubert Kinz mit der Problematik, dass sämtliche Pflegefälle von Österreich als auch der Schweiz im Stich gelassen werden. In einem Pressedienst greift er aktuell den Sachverhalt aufgrund einer unbefriedigenden Antwort aus Brüssel nochmals auf.

Wer in Österreich wohnhaft ist, allerdings als Grenzgänger in der Schweiz erwerbstätig war und daher nur von der Schweiz einen Rentenanspruch hat, bekommt von Österreich kein Pflegegeld. Die Schweiz allerdings bezahlt ihre sogenannte Hilflosenentschädigung nur an Pflegefälle, die auch in der Schweiz wohnhaft sind. Der zuständige EU-Kommissar Nicolas Schmit hat einen ausführlichen Brief des FPÖ-Politikers erhalten. Der EU-Mann weicht in seinem Antwortschreiben aber komplett aus und verweist darauf, dass die EU-Kommission die rechtlichen Schritte auf nationaler Ebene nicht ersetzen könne.

Nicht durchdachte Regeln

Wer den Sachverhalt allerdings kennt, dem ist bekannt, dass der österreichische Oberste Gerichtshof schon vor Jahren zu Ungunsten eines Pflegefalls eben aufgrund der EU-Gesetze entschieden hat. Faktisch führen die EU-Verordnungen, in Verbindung mit dem Freizügigkeitsabkommen der EU mit der Schweiz und auch dem Umstand, dass sich während und nach Abschluss dieser Verhandlungen die Regeln aufgrund höchstgerichtlicher Entscheidungen auf europäischer Ebene geändert haben, dazu, dass Pflegefälle im Regen stehen gelassen werden.

Die Schweiz hatte im Freizügigkeitsabkommen mit der EU vereinbart, dass die Hilflosenentschädigung nur an in der Schweiz wohnhafte Personen bezahlt werden muss. Das Fürstentum Liechtenstein hat auch eine Hilflosenentschädigung und vereinbarte ebenfalls, dass die Leistung nur an in Liechtenstein wohnhafte Personen zu leisten ist. Die gleichen Maßnahmen setzten Deutschland und auch Österreich jeweils mit ihrem Pflegegeld.

ABER: Betroffene EU-Bürger machten dem einen Strich durch die Rechnung. Eingangs muss man wissen: Alle vier genannten Staaten gaben ihren Geldleistungen für pflegebedürftigen Personen den Charakter einer sogenannten „besonderen beitragsunabhängigen Geldleistung“. Solche Leistungen, zu der auch die als „Mindestpension“ bekannte Ausgleichszulage gehört, müssen nur an Personen bezahlt werden, die auch im jeweiligen Staat wohnhaft sind. Anders ist es bei Leistungen, die als „Leistungen bei Krankheit“ eingestuft werden.

Die Chronologie

Der Niederländer Manfred Molenaar und seine deutsche Ehefrau Barbara Fath-Molenaar wohnten in Frankreich, waren aber in Deutschland erwerbstätig. Als sie die Kenntnis erlangten, dass sie trotz ihrer Versicherungsbeiträge, die sie in Deutschland bezahlten, keine Pflegeleistungen zu erwarten hätten, wenn sie nicht in Deutschland wohnhaft sind, zogen sie bis zum Europäischen Gerichtshof (EuGH). Und dieser entschied im März 1998, dass das deutsche Pflegegeld keine „besondere beitragsunabhängige Geldleistung“ wäre, die nicht ins Ausland bezahlt werden braucht. Der EuGH entschied vielmehr, dass das Pflegegeld auch ins Ausland zu bezahlen ist, weil es tatsächlich eine „Leistung bei Krankheit“ darstellt.

In Folge traf das EuGH-Urteil den Deutschen Friedrich Jauch. Dieser wohnte in Deutschland, arbeitete aber in Österreich und bezog nur von Österreich eine Pension. Nach der Rechtsache Molenaar änderte Deutschland sein System und strich Herrn Jauch das Pflegegeld, da er ausschließlich von Österreich eine Pension bezieht und daher Österreich zuständig sei. Herr Jauch klagte Deutschland als auch Österreich und zog ebenfalls bis zum EuGH. Österreich meinte wie Deutschland, dass sein Pflegegeld eine „besondere beitragsunabhängige Geldleistung“ sei, die nicht ins Ausland exportiert werden muss. Der EuGH entschied im März 2001 allerdings – so wie bei Deutschland – dass auch das österreichische Pflegegeld eine „Leistung bei Krankheit“ ist, die übrigens auch durch die Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge finanziert wurde. Daher musste auch Österreich seither sein Pflegegeld ins Ausland bezahlen.

Auch Liechtenstein musste sich Gericht fügen

Die Fälle Molenaar und Jauch hatten auch Folgen für die Nicht-EU-Staaten Schweiz und Liechtenstein, die für Pflegefälle die „Hilflosenentschädigung“ haben. Beide Staaten finanzieren ihre Leistungen durch allgemeine Steuern und nicht durch Krankenversicherungsbeiträge. Der EFTA-Gerichtshof, der für die EWR-Staaten zuständig ist, entschied im Falle von Liechtenstein im Dezember 2007, dass es sich bei der Hilflosenentschädigung dennoch um keine „besondere beitragsunabhängige Geldleistung handelt“, sondern um eine Geldleistung bei Krankheit, die daher ins Ausland exportiert werden muss.

Und die Schweiz? Für sie ist in zwischenstaatlichen Streitfällen das Schweizer Bundesgericht zuständig. Und dieses hat nicht einmal geprüft, ob die Hilflosenentschädigung eine „Leistung bei Krankheit“ ist oder eine „besondere beitragsunabhängige Geldleistung“. Das Gericht meinte im Juli 2006 (und somit vor der Entscheidung des EFTA-Gerichtshofs im Fall Liechtenstein), dass es den Export dieser Leistung nicht anordnen kann, da es mit dem Freizügigkeitsabkommen eine Vereinbarung mit der EU gibt.

Schweizer halten an Abkommen fest

In der Beantwortung einer Medienanfrage, die in einer parlamentarischen Anfrage an den grünen Sozialminister Rudolf Anschober veröffentlicht wurde, ließen die Schweizer Behörden wissen, dass deren Hilflosenentschädigung durchaus als eine „Leistung bei Krankheit“ anzusehen wäre, allerdings der Nichtexport mit der EU vereinbart wurde. Dies ist insofern beachtlich, als der EuGH und der EFTA-Gerichtshof die Regeln von Deutschland, Österreich und Liechtenstein änderten und allein schon aus diesem Umstand die Vereinbarung der Schweiz mit der EU in Sachen Hilflosenentschädigung obsolet sein sollte.

Das Abkommen wurde am 21. Juni 1999 abgeschlossen und somit erst nach der Entscheidung Molenaar, bei der klar war, dass Pflegegeldleistungen nicht als „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ klassifiziert werden dürfen. Jauchs Klage wiederum langte beim EuGH am 16. März 1999 ein, womit der EU-Kommission und anderen Organen bekannt war, dass sie die Notbremse ziehen müssen. Sie hätten vereinbaren müssen, dass die Schweiz auch ihre Hilflosenentschädigung ins Ausland exportieren muss. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, dass die EU gesetzlich regelt, dass wenn die Schweiz ihre Leistung für Pflegefälle nicht exportiert, die EU-Bürger eine andere Möglichkeit haben müssen, um ein Pflegegeld oder eine ähnliche finanzielle Hilfe zu bekommen.

Problem seit Jahren bekannt, unternommen wurde nichts

Im Oktober 2011 hegte die EU-Kommission übrigens auch Zweifel daran, ob die Hilflosenentschädigung in der entsprechenden EU-Verordnung als besondere beitragsunabhängige Geldleistung anzuführen ist. Doch geklärt hat sie seither offenbar nichts. Zuständig wären die „Gemischten Ausschüsse“, die sich von Vertretern der Schweiz und der EU zusammensetzen.

9.000 Österreicher pendeln aktuell in die Schweiz. Ob sie allesamt von ihrem „Glück“ wissen, dass sie nach der aktuellen Gesetzeslage bei Pflegebedürftigkeit kein Pflegegeld bekommen, wenn sie nicht auch eine Pension aus Österreich beziehen, ist fraglich. Ansonsten gibt oder gab es den einen oder anderen Pflegefall, der bereits die kalte Schulter dieser Gesetzeslücke zu spüren bekommen hat. Die Schweiz hat übrigens ein Abkommen mit Liechtenstein dahingehend, dass Grenzgänger im Wohnstaat krankenversichert bleiben und daher von ihrem Wohnstaat die Hilflosenentschädigung erhalten. Ein solches Abkommen hat Liechtenstein auch mit Österreich. Österreich hat aber kein solches Abkommen mit der Schweiz.

Anschober sieht keinen Handlungsbedarf

Der grüne Sozialminister Rudolf Anschober ließ in einer Anfragebeantwortung wissen, dass er keinen Handlungsbedarf sieht. Vielmehr sieht er sich durch die Höchstgerichte bestätigt. Denn Österreich hat sogar das Bundespflegegeldgesetz dahingehend verschärft, damit mit Sicherheit nichts an in Österreich wohnhafte Pensionisten bezahlt werden muss, wenn sie ausschließlich von einem anderen Staat eine Pension beziehen. EU-Kommissar Schmit hat mit dieser Verschärfung auch kein Problem, wie er Kinz mitteilte.

Die Schweiz fühlt sich nicht zuständig, weil sie ein Abkommen mit der EU hat und Österreich fühlt sich nicht zuständig, weil ihr die verantwortliche EU-Verordnung und die Entscheidung des Obersten Gerichtshof diesbezüglich Recht gibt. Der OGH hatte die EU-Verordnung anders interpretiert als die Instanz zuvor. Und die EU rührt keinen Finger, während Pflegefälle, die faktisch mehr denn je Hilfe brauchen, dank undurchdachter Gesetze und Vereinbarungen eiskalt abserviert werden.

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