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Weder Wolfgang Mazal noch andere Rechtsexperten wollten die Frage nach dem Anspruch auf Familienleistungen beantworten.

10. Oktober 2019 / 17:43 Uhr

Warum zahlen wir Kindergeld ins Ausland? Experten gaben keine Antwort

Warum bezahlt Österreich Familienleistungen wie etwa die Familienbeihilfe ins Ausland? Eine Frage, die man grundsätzlich damit beantworten kann, weil es die EU-Verordnung 883/2004 und seine Vorgänger-Verordnungen so regeln. Allerdings ist mit der Fragenstellung konkret gemeint, warum dies die EU-Gesetze überhaupt vorsehen. Unzensuriert hat in der Vergangenheit mehrmals darüber berichtet. Unterm Strich vertritt die EU die Ansicht, dass wann jemand in einem Staat arbeitet, eben aufgrund seiner Erwerbstätigkeit ein Anrecht auf Familienleistungen hat. Erst wann jemand gearbeitet hat bzw. aufgrund seiner Erwerbstätigkeit Rentenansprüche erworben hat, dürfte die Person in den Genuss von Familienleistungen eines Staates kommen, wenn sein Kind in einem anderen Staat lebt.

Das Problem

Unzensuriert-Recherchen ergaben, dass es keinen Staat in Europa gibt, der Familienleistungen, die der österreichischen Familienbeihilfe ähnlich sind, explizit aufgrund einer Erwerbstätigkeit gewährt. Fraglich ist dabei auch, ob der Familienbonus Plus, der eine Steuererleichterung beim Einkommen darstellt, als Familienleistung im Sinne der EU-Verordnung 883/2004 angesehen werden kann, da er einen ganz anderen Charakter hat. Das jemand erst arbeiten MUSS, um einen Anspruch auf Familienleistungen ähnlich der österreichischen Familienbeihilfe oder dem deutschen Kindergeld zu haben, gibt es so nicht. Folglich dürfte für diese auch eine Erwerbstätigkeit nicht als Kriterium herangezogen werden. Doch die EU-Verordnung 883/2004 sieht explizit in Artikel 67 und 68 vor, dass zumindest ein Elternteil arbeiten muss oder einen Rentenanspruch benötigt, damit Eltern aus zwei Staaten Anspruch auf Familienleistungen haben können. Dies steht allerdings in Widerspruch zu Artikel 4 der gleichen Verordnung, die besagt, dass alle Personen gemäß den Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats die gleichen Rechte und Pflichten haben:

Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.

Diskriminierung in EU-Verordnung

Anders gesagt: Ausländer sind genauso zu behandeln, wie Inländer eines Staates. Müssen allerdings Ausländer explizit für den Bezug einer Leistung erwerbstätig sein, während das für Inländer nicht gilt, stellt dies eine ganz klare Diskriminierung dar.

Die EU-Verordnung 883/2004 regelt nicht nur Familienleistungen, sondern u.a. auch Leistungen bei Renten oder Arbeitslosigkeit. Wann jemand im Zuge seiner Jahre in mehreren Staaten gearbeitet hat und daher nicht die ganze Zeit ins gleiche Sozialsystem eingezahlt hat, ist es logisch, dass hier eine Regelung getroffen werden muss. Wann jemand, der in mehreren Staaten gearbeitet hat, aber dann arbeitslos wurde, ist es ebenfalls logisch einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung aufgrund der Versicherungszeiten in mehreren Staaten zu berücksichtigen.

Was aber Familienleistungen betrifft, ist es grundsätzlich vollkommen irrelevant, ob jemand arbeitet oder nicht. Familienleistungen werden aufgrund der Haushaltszugehörigkeit eines Kindes bezahlt. Ob die Eltern auch arbeiten, spielt keine Rolle. Was allerdings sein kann, ist, dass Staaten keine Familienleistungen bezahlen, wenn Eltern ein zu hohes Einkommen haben. Dies ändert aber dennoch nichts daran, dass Eltern mit keinem Einkommen auch einen Anspruch auf Familienleistungen haben. Es ist daher nicht logisch, warum die EU-Verordnung 883/2004 explizit Ansprüche von Familienleistungen regelt.

Unzensuriert ersuchte namhafte Rechtsexperten um Stellungnahme. Konkret folgende Personen:

Wolfgang Mazal. Mazal ist jener Sozialrechtler, der ein Gutachten verfasste, in dem die Indexierung der Familienbeihilfe für Kinder, die im Ausland leben, gerechtfertigt wird.

Franz Marhold. Marhold zählt zu jenen Rechtsexperten, die festgehalten haben, dass eine Indexierung der Familienbeihilfe für Kinder, die im Ausland leben, dem EU-Recht widersprechen würde.

Walter Obwexer. Obwexer ist Universitätsprofessor für Europarecht in Innsbruck. Er ist ebenfalls der Meinung, dass eine Indexierung der Familienbeihilfe nicht hält.

Alle drei Genannten dürften jedenfalls Experten im Europarecht sein, wenngleich Mazal eine andere Linie vertritt. Keiner von ihnen konnte oder wollte Unzensuriert eben auf die Fragestellung, warum eine Erwerbstätigkeit überhaupt als notwendige Voraussetzung für den Erwerb einer Familienleistungen gelten muss und inwieweit das mit dem Artikel 4 der EU-Verordnung 883/2004 zu vertreten sei, eine Antwort geben.

Unzensuriert ersuchte außerdem die Presseabteilung der EU-Kommission sowie die Rechtsabteilung des Bundeskanzleramts um Stellungnahme. Auch hier gab es Funkstille. Niemand fühlte sich bemüßigt eine Antwort abzugeben. Oder vielleicht wussten die Herrschaften nicht, was man antworten könnte?

Was könnte realpolitisch getan werden?

Österreich ist aktuell mit einem Vertragsverletzungsverfahren wegen der Indexierung der Familienbeihilfe ins Ausland konfrontiert. Österreich sollte sich allerdings in dieser Sache nicht auf eine Klage beim Europäischen Gerichtshof einlassen, da Artikel 7 der EU-Verordnung 883/2004 eine Kürzung oder Veränderung von Leistungen aufgrund des Wohnorts eines Familienangehörigen ausdrücklich verbietet:

Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.

Österreich sollte daher die Indexierung der Familienleistungen einstampfen und stattdessen überhaupt nichts mehr an Familienleistungen für Kinder, die im Ausland leben, bezahlen und sogar eine Rückforderung der Beiträge bis zu fünf Jahre zurückverlangen. Dies würde zu einem Aufschrei und einem neuen Vertragsverletzungsverfahren führen, bei dem Österreich seinen Standpunkt vertritt, dass die Artikel 4, 67 und 68 der EU-Verordnung 883/2004 einander widersprechen, bzw. eine Bezahlung von Familienleistungen aufgrund einer Erwerbstätigkeit im Sinne des Artikel 4 der gleichen Verordnung eine Diskriminierung darstellt.

In diesem Fall sollte es Österreich darauf anlegen bis zum EuGH zu streiten. Und dieser müsste sich dann den Kopf darüber zerbrechen, ob eine jahrzehntelang gelebte Praxis überhaupt ihre Berechtigung gehabt hat.

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